Leserbrief zum Artikel NATO-Personal: Impfung außer der Reihe
vom 23.03.2021:
Militär hat Vorfahrt
Da kann man nur staunen: große mediale Aufregung über die »Impfvordrängler«, eine beachtliche Reihe von staatlichen und politischen Würdenträgern, die ihren Oberarm rein »per Zufall« liegengebliebenen Impfdosen selbstlos zur Vakzinierung präsentierten. Natürlich galt ihr mutiges Opfer in erster Linie dem Kampf gegen den jeweiligen Verfall des in der EU unbestritten überaus knappen Impfstoffs. Letzteres auch deshalb, weil zur Sicherung des Absatzmarktes zugunsten der Pharmariesen des Westens das russische Angebot einer günstigen »Sputnik V«-Gestattungsproduktion (ein Terminus aus DDR-Zeiten) innerhalb von EU-Ländern selbst durch die Brüsseler Arzneimittelagentur (EMA) seit Monaten absichtsvoll ausgebremst wird. Nun aber der Kontrast zu der oben genannten Empörung des sonst so aktiven politisch-medialen »Erregungsmanagements« (Begriffswahl von Jens Spahn): zum Beispiel in der Ostsee-Zeitung vom 24. März d. J. die kaum auffällig plazierte Mitteilung, dass die »rund 4.400 Beschäftigten in der NATO-Zentrale in Brüssel sich außerhalb der normalen Impfreihenfolge gegen Covid-19 immunisieren können.« Auch in den elektronischen Massenmedien diesmal keinerlei Aufreger. Nicht nur die erstaunten Bundesbürger und EU-Europäer wird es möglicherweise vor Rührung dahinraffen, wenn sie die Kunde vom Opfergeist militarisierter Gesundheitssolidarität des polnischen Bündnispartners hören. Polen, das selbst zu den am stärksten vom Coronavirus befallenen Ländern ganz Europas gehört, spendet der NATO-Zentrale großherzig hierfür von seinen überaus knappen Reserven an Astra-Zeneca-Impfstoff. Damit – wie es hieß – »die NATO ihre notwendige Arbeit fortsetzen« könne. Ungeachtet der allgemein menschlichen Herausforderungen durch die Coronapandemie gewinnt militarisierter Hass nicht nur im heutigen von einem erneuten Kalten Krieg geprägten Verhältnis zwischen dem Westen und Russland wachsendes Gewicht. Er stellt auch in der inneren Sphäre den stets lauthals proklamierten Gleichheitsanspruch westlicher Demokratie in Frage. Die Militarisierung der Gesellschaft in der EU hat hinter dem Scheinargument notwendig wachsender staatlicher Sicherheitsansprüche (Überwachung, Aufrüstung usw.) Vorfahrt gegenüber jeglichen Forderungen nach demokratischer Kontrolle und Transparenz. So auch im Fall der Impfprivilegierung des NATO-Hauptquartiers, die einen mehr als fragwürdigen Vakzinanspruch der militärischen Eliten offenbart.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 25.03.2021.