Ich bin sauer
Auf Demos macht man sich auch über die Demo selbst Gedanken: Ist sie groß oder peinlich? Ist sie eine Latschdemo, oder geht es flott voran? Wo sind die Agents provocateurs der Polizei diesmal? Wird’s Randale geben? Wie sehen die anderen Demonstranten aus? Man sinniert über die »Ästhetik des Widerstands«, na ja, sagen wir mal, über die Ästhetik des Neinsagens.
Am Samstag bei der Demo gegen das geplante TTIP-Abkommen in Berlin war eine kleine Blonde, die trug ein Schild im DIN-A-4-Format aus ollem braunen Pappkarton, darauf stand mit schwarzem Edding: »Ich bin so sauer, ich hab’ ein Schild gemalt.« Diese Lakonie offenbart den Grad der Desillusionierung der jungen Frau: dagegen sein, aber sich machtlos fühlen, alles, was in der Demokratie geht, ist demonstrieren und ein Schildchen hochhalten – bitte schön! Mühe geb’ ich mir für den Mist aber nicht. Neben Moraltransparenten wie »TTIP höhlt Ihre Demokratie aus« oder dem floskelhaften »Weg mit der Profitgier der Konzerne« mit einem Uncle Sam mit Dollarzeichen in den Augen wirkt eine solches Statement geradezu philosophisch.
»TTIP ist totale Scheiße«: Der junge Mann, der dieses Schild trug, trat inhaltlich noch drastischer auf, in der Form aber blieb er konsequent: kackbrauner Pappkartondeckel. Auch er hat seine demokratische Pflicht erfüllt: ist dabei, trägt Schild, sagt Meinung. Und: verachtet.
Zählte ich zu den Herrschenden, würden mir solche Leute mehr Angst machen als die bunten Fahnenträger. (mawu)
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