Apotheke im Hauptbahnhof Hannover
Von Wiglaf DrosteUmsteigen in Hannover – was, außer sich vor den Zug werfen, sollte man dort sonst auch tun? –; in einer Apotheke muss ich noch, um nicht vor gegebener Zeit zu vertrocknen und zu verwelken, eine Creme besorgen. Ich finde das gesuchte Produkt, allerdings nur in Form einer leeren Pappschachtel; den Inhalt, erklärt mir eine Regalauffüllerin, »bekommen Sie dann an der Kasse, es wird ja so viel geklaut.«
Dass man als Nichtdieb so regelmäßig wie regelgemäß die Zechen der Diebe zu zahlen hat, ist eine Binse und doch wahr. Ich stelle mich ganz hinten in der langen Schlange an – »The snake is long«, tönte schon Jim Morrison –, drei Meter hinter mir wühlt eine Frau in ihrem Portemonnaie herum, sieht auf, setzt sich in Marsch und blafft mich an: »Da stand ICH, junger Mann!«
Ich mustere sie, ein Ensemble aus Lindgrün und Altrosa, lächle freundlich in ihr knickriges Pflegesetgesicht und sage: »Keine Bange, ich bin nicht in dem Alter, in dem man sich ungeniert vordrängelt. Das tun nur testosterongeladene Jungdeppen, zwangsdynamische Ich-Ich-Ichs und alte Leute. Die Pest des Egozentrismus ist nicht an Alter oder Geschlecht gebunden, sie grassiert universell.«
Meine Antwort gefällt ihr überhaupt nicht, sie erwidert mein Lächeln jedenfalls nicht, knabbert und kaut ein wenig an ihrem Zahnersatz herum, dreht sich entrüstet weg, während ich still- und stilvernügt meinen Warteplatz hinter ihr einnehme, nach 15minütigem Anstehen eine gefüllte Packung Creme kaufen kann, meinen Zug gerade noch erwische und Hannover verlassen darf. Gut.
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