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Aus: Ausgabe vom 04.08.2016, Seite 11 / Feuilleton

Alle hatten die Absicht

Von Matthias Krauß

Niemand hat die Absicht... Es scheint, dass von der gesamten Lebensspur des DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht massenmedial wohl allein dieser Satz vom 15.6.1961 zurückbleiben wird: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten. Die Bauschaffenden der DDR haben Wichtigeres zu tun.« Weil wenige Wochen nach dieser Bemerkung die Abriegelung der Grenze zwischen Ost- und Westberlin aber begann, gilt dieser Satz als Symbol und Beleg für politische Falschheit schlechthin.

Tatsache ist, dass in dem Augenblick, als Ulbricht seinen berühmten Satz sagte, das letzte Wort in der Frage des Mauerbaus noch nicht gesprochen war. Insofern ist zumindest theoretisch möglich – wenn auch, zugegeben, wenig wahrscheinlich – dass Ulbricht hier authentisch gesprochen haben könnte.

Ohnehin wird er als damals führender DDR-Politiker auf eine merkwürdig unsachliche Art und Weise heillos überschätzt. Es ist Westdeutschen eigen – und da zeigen sie sich als eifrige Schüler ihrer einstigen amerikanischen Besatzungsmacht – politische Gegebenheiten zu personifizieren. Mit seiner Fistelstimme und seinem mitunter ungeschickten Auftreten bot Ulbricht eine gute Projektionsfläche. Nach Meinung von Ernst Bloch hatte Ulbricht »einfach zu wenig Sexappeal«. Übersehen wird dabei allerdings das Wesentliche: Ulbricht war gar nicht der Mann, der eine solche Entscheidung, die Errichtung einer Mauer, fällen konnte. Und schon gar nicht allein. Und das gilt unabhängig davon, ob er dieses Projekt befürwortet hat oder nicht.

Die Entscheidung für den Mauerbau fiel im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Zu diesem Behufe wurden die Partei- und Staatschefs aller Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages nach Moskau eingeladen, und dort wurden zwischen dem 3. und 5. August 1961 »Maßnahmen zur Sicherung des Friedens« unterzeichnet. Ohne dass der Extra-Beschluss veröffentlicht worden wäre (man könnte beinahe von einem geheimen Zusatzprotokoll sprechen), gaben die Vertreter aller beteiligten Nationen einer Maßnahme ihre Zustimmung, die später in der DDR »Sicherung der Staatsgrenze« genannt wurde. Ungarn und Polen stimmten ebenfalls zu. Es ist nicht überliefert, dass Ulbricht gegen diesen Beschluss votiert hätte.

Als er den Satz sagte, auf den die populäre westliche Geschichtsschreibung ihn reduzieren möchte, konnte er diese Entwicklung erwarten. Interessant ist, dass er nicht sagte: »Ich habe nicht die Absicht...« oder: »Die DDR hat nicht die Absicht...«. Nein, er sprach von »niemand«, und das ist entlarvend, weil er das nun nicht wissen konnte. Blauäugig gefragt: Woher sollte Walter Ulbricht wissen, ob nicht Konrad Adenauer die Absicht hatte, eine Mauer zu bauen?

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