Hegemonie am Küchentisch
Von Georg HoppeMeistens kommt es unvorbereitet. Während der Zigarettenpause im Betrieb, bei der Studentenfeier oder beim Familiengeburtstag wähnt man sich in Sicherheit, und plötzlich werden einem unangenehme Ansichten aufgedrängt. Der ältere Kollege gibt seine Weisheit in Form demographischer Horrormärchen zum besten. Die eben noch sympathische Studienkollegin findet das Gefasel von Armut völlig übertrieben und sieht die Schuld bei den »wenigen Armen« selbst. Und der Vater fängt am Küchentisch an, den »Fleiß« der Deutschen zur Grundlage ihrer wirtschaftlichen Erfolge zu verklären.
Wer sich in solchen Situationen regelmäßig überrumpelt fühlt, gerne die Zeit anhalten und eine Argumentationshilfe aus der Tasche zaubern will, hat dazu mit den »Gute-Macht-Geschichten« eine Möglichkeit mehr. Das Lexikon im Taschenbuchformat soll gängige wirtschafts- und sozialpolitische Begriffe als ideologisch entlarven und ihre »eigentlichen« Bedeutungen dargestellen – so der Anspruch der Autoren.
Das Buch beleuchtet Begriffe wie »alternativlos«, »Demographie«, »Fachkräftemangel«, »gerechter Lohn«, »Neid«, »sparen«, »starker Staat«, »unterprivilegiert«, »Wachstum« und »Zinsenteignung«. In vielen Fällen bringt es knackig auf den Punkt, welche politische Funktion ein Begriff erfüllt und für wen das nützlich ist. Schlägt man zum Beispiel bei »Arbeitsplatzbesitzer« nach, findet man folgendes: Die »besonders perfide Wortschöpfung (...) verfolgt offensichtlich den Zweck, den Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit in der öffentlichen Wahrnehmung auszublenden und statt dessen die abhängig Beschäftigten gegen die Arbeitslosen auszuspielen«.
An anderer Stelle bekommt man nützliche Daten geliefert, etwa wenn es um den »Fleiß« geht. Die Autoren zitieren den Deutschlandbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), nach dem der »fleißige Deutsche« im Jahr 2015 1.397 Stunden arbeitete. »Der Grieche« dagegen – sollte er nicht faul sein? – arbeitete 2.034 Stunden. Die Autoren schlagen den ideologischen Feind hier auf eigenem Terrain.
Der Band hat einen schwerwiegenden Nachteil: Daniel Baumann und Stephan Hebel benennen zwar Machtverhältnisse, analysieren sie aber nicht zu Ende und brechen sie niemals komplett auf. Offensichtlich wird diese Beschränkung vor allem, wenn es um die Subjekte und deren Handlungsmöglichkeiten geht. Da sind »wir« Bürgerinnen und Bürger auf der einen Seite, Lobbyisten, Politiker und gewisse Medienvertreter auf der anderen. An erstere wendet sich das Buch, letztere sind einzig Produzenten von Ideologie. »Wir« können kritisch sein, uns engagieren, protestieren, selbstbewusst Lohnverhandlungen führen. Aber in dieser beschränkten Perspektive keine Revolution machen.
Dennoch: Von einem bürgerlich-progressiven Standpunkt aus gehen Baumann und Hebel weit genug, das Buch nützlich zu machen. Also die Zeit wieder laufen lassen und am Küchentisch mit den Autoren dagegenhalten: Papa, die Rede vom »deutschen Fleiß« ist nur ein »demagogisches Kampfinstrument gegen andere Völker«.
Daniel Baumann/Stephan Hebel: Gute-Macht-Geschichten. Politische Propaganda und wie wir sie durchschauen können. Frankfurt am Main 2016, Westend, 256 S., 16 Euro
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