Visionen sammeln
Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat in seiner Nobelrede ein düsteres Bild der aktuellen Gesellschaft gezeichnet. Im vergangenen Jahr sei er gezwungen gewesen, einzusehen, »dass der unaufhaltsame Fortschritt liberal-humanistischer Werte, die ich seit meiner Kindheit für selbstverständlich hielt, möglicherweise eine Illusion war«, sagte der 63jährige am Donnerstag in Stockholm. Die Zeit seit dem Fall der Berliner Mauer sei »eine der Selbstgefälligkeit, der verlorenen Möglichkeiten«. Dadurch vermehrten sich jetzt rechte Ideologien und Nationalismus auf der Welt. Eine vielfältigere, weniger konservativ denkende Literatur könne helfen, wieder eine gemeinsame Vision zu entwickeln, sagte der in Japan geborene britische Autor, der am Sonntag den Literaturnobelpreis entgegennehmen wird. »In Zeiten gefährlich zunehmender Spaltung müssen wir zuhören«, forderte er. »Vielleicht finden wir sogar eine neue Idee, eine große menschliche Vision, um die wir uns sammeln können.«
In seiner Vorlesung beschrieb der Schriftsteller, wie er seinen literarischen Stil entwickelt habe. Die Lektüre Marcel Prousts habe ihm vermittelt, dass er seine Geschichten nicht linear erzählen müsse. Plötzlich habe er seine Bücher komponieren können, wie ein abstrakter Maler Formen und Farben auf der Leinwand anordne. Von den Sängern Tom Waits, Bob Dylan, Bruce Springsteen und Ray Charles habe er gelernt, unfassbar komplex gemischte Gefühle auszudrücken.
Als wichtigen Wendepunkt in seiner Karriere beschrieb Ishiguru den Tag, an dem er beim Schauen eines langweiligen Films verstanden habe, dass Geschichten anhand von Beziehungen erzählt werden müssten. »Was, wenn ich aufhören würde, mir über die Charaktere Gedanken zu machen und statt dessen über ihre Beziehungen nachdächte? Vielleicht würden meine Charaktere dann von selbst kommen.« (dpa/jW)
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