Hintergrund: Lage in Sindschar
Im Juni 2014 rief der Anführer des sogenannten Islamischen Staates (IS), Abu Bakr Al-Baghdadi, in der irakischen Stadt Mossul ein neues »Kalifat« aus. Im August desselben Jahres überfielen die Dschihadisten die von kurdischen Jesiden bewohnte Stadt Sindschar (kurdisch: Schingal). Die Jesiden sprechen dabei vom 74. Genozid an ihnen in ihrer Geschichte. Unweit von Sindschar befindet sich das Lalischtal – das religiöse Zentrum der Glaubensgemeinschaft.
Obwohl Sindschar juristisch zum irakischen Staat gehört, befand sich die Stadt bis zum Angriff des IS unter Kontrolle der Einsatzkräfte der Autonomen Region Kurdistan, die Peschmerga genannt werden. Diese stehen wiederum dem Barsani-Clan nahe, welcher mit Hilfe der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) die Regierung stellt. Als der IS Sindschar angriff, gaben weite Teile der Peschmerga ihre Stellungen fluchtartig auf und überließen die Jesiden ihrem Schicksal.
Die Bewohner der Stadt versuchten, sich in das Sindschargebirge zu retten, und harrten dort im Sommer tagelang aus. Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ihrer syrisch-kurdischen Schwesterorganisation Volksverteidigungseinheiten (YPG) kämpften einen humanitären Korridor nach Syrisch-Kurdistan frei, wodurch die eingeschlossene Bevölkerung fliehen konnte.
Im April 2018 verkündete die PKK, sich offiziell aus Sindschar zurückgezogen zu haben, da sie ihre Ziele in der Region erreicht habe. Die Türkei beharrt jedoch darauf, dass PKK-Kämpfer noch immer in dem Gebiet aktiv seien, bombardiert das Gebirge mit Hilfe von Drohnen und errichtet im Umland völkerrechtswidrige Militärstützpunkte.
Auch sonst ist die Sicherheitslage verheerend: Proiranische Milizen und verschiedene jesidische Gruppen kontrollieren eigene Territorien, immer wieder kommt es zu Schusswechseln. Geopolitische Kalkulationen von Staaten sorgen dafür, dass diese in der Region intervenieren. Eine Einigung der verschiedenen Gruppen steht noch immer aus. Die Zentralregierung in Bagdad hat ebenfalls noch keine Schritte unternommen, um die Sicherheit dort zu gewährleisten. Zellen des IS sind weiter in den Gebieten um Kirkuk und Mossul aktiv und verüben nach wie vor Anschläge. Leidtragende dieser Misere ist die jesidische Bevölkerung.
Etwa 350.000 Jesiden leben seit Jahren in Flüchtlingscamps der Autonomen Region Kurdistan. Es gibt nur wenige Ärzte, Therapeuten und Sozialarbeiter. Hilfsorganisationen haben sich während der Coronapandemie weitgehend zurückgezogen – die Camps wurden geschlossen. Im Zuge dessen stiegen die psychischen Erkrankungen sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen deutlich.
(jW)
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