»Alles ist wiederholbar«
Ein Gespräch mit Ernst Klee
Guido SprügelErnst Klee (Jg.1942), Lehre als Sanitär- und Heizungstechniker, Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, Studium der Theologie und Sozialpädagogik. Er publiziert u.a. in der Wochenzeitung Die Zeit und zahlreichen Rundfunkanstalten.
1983 erschien sein Buch »>Euthanasie im NS-Staat. Die Vernichtung >lebensunwerten Lebens<«.1996 trat er mit dem ARD-Dokumentarfilm »Ärzte ohne Gewissen« hervor. Im Herbst 1997 veröffentlichte Klee das Buch »Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer«. (Red.)
F: Ihr Buch zur Euthanasie ist 1983 erschienen. Wie waren zu dieser Zeit die Bedingungen für das Erscheinen des Buches?
Das war eine Zeit, in der wir im Verlag unsicher waren: Wie gehen wir mit den Namen von Tätern um? Ich war und bin einer, der immer Täternamen nennt. Aber zur damaligen Zeit war ich noch unsicher.
Was mir damals unklar war, war die Tatsache, daß ich zwar wußte, daß bis August 1941 in Vergasungsanstalten vergast wurde. Was ich jedoch nicht wußte, war, daß die Vergasungen danach zwar eingestellt wurden, jedoch mehr Menschen in der Psychiatrie umgebracht worden sind als zuvor. Das geschah dann durch Nahrungsentzug und durch das Nachhelfen mit Medikamenten - man hat sie regelrecht vergiftet. Und was mir auch überhaupt nicht klar war, war die Tatsache, daß in der Nazizeit nur das umgesetzt wurde, was Psychiater und andere Fachleute schon lange vor der Nazizeit gefordert hatten. Diese Tatsache ist ein Grund dafür, daß es in den Psychiatrien keinen nennenswerten Widerstand gegen die Tötungen gegeben hat. Es gibt keinen einzigen Arzt, der einen Abtransport in eine Vergasungsanstalt verhindert hätte. Und es gab jede Menge Kontinuitäten, d. h., daß sich viele Mediziner nach 1945 unangefochten als Ärzte niedergelassen haben. Und daß sich selbst Ärzte, die vergast haben, z. B. ganz normal als Frauenärzte niedergelassen haben. Mit diesem Ausmaß an Kontinuitäten hab ich nicht im entferntesten gerechnet.
F: Wie war die Reaktion auf das Erscheinen des Buches?
Die war eigentlich sehr einhellig negativ! Für dieses Buch hab ich sehr viel Prügel eingesteckt - sei es von seiten der Psychiatrie oder von Fachhistorikern. Es wurde zuerst in den USA und England von Fachhistorikern positiv rezensiert. Es ist aber aus heutiger Sicht ein Buch, das sich im Laufe der Zeit als Standardwerk durchgesetzt hat und eine unglaubliche Folge von Forschungsarbeiten ausgelöst hat. Heute ist es unbestritten!
F: Haben Sie sich nach Veröffentlichung des Buches zur Euthanasie schon bald auf die Arbeit zu dem Buch zur NS-Medizin gestürzt?
Nein, überhaupt nicht. Es ist was anderes passiert. Wer sich mit dem Thema »Euthanasie« beschäftigt, muß irgendwann darauf stoßen, daß die Täter, die in Grafeneck und Hadamar gearbeitet und gemordet haben, ab einem bestimmten Zeitpunkt in den Judenvernichtungslagern, wie z. B. Treblinka, auftauchten. Es muß gesehen werden, daß die Tötungsmethode mit Gas und deren Umstände, also die Tarnung der Gaskammern als Duschräume, von der »Euthanasie« her kommt und dort erfunden worden ist. Es sind dieselben Täter, dieselbe Mordmethode, die gleiche Organisation.
Ich habe dann zunächst zum Thema weitergearbeitet und die Nachkriegskarrieren der Täter recherchiert und dazu ein Buch geschrieben. Weiter war die systematische Vernichtung der Juden nach dem Beginn des Rußlandfeldzuges ein Arbeitsschwerpunkt. Zu Beginn sind diese Vernichtungen regelrecht als Volksfeste begangen worden, d. h. LKWs sind mit Lautsprechern durch die Orte gefahren und haben zur Hinrichtung eingeladen. Daraus ist das Buch »Schöne Zeiten - Judenvernichtung aus der Sicht der Täter und Gaffer« entstanden. Darin sind die Fotos dieser Hinrichtungen enthalten.
Im Anschluß habe ich, da es so viele solcher Fotos gibt, einen Band über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht gemacht.
F: Aber dann kam irgendwann die Beschäftigung mit dem Thema des aktuellen Buches?
Ich habe immer gedacht, daß mit dem Buch von Mitscherlich und Mielke »Medizin ohne Menschlichkeit« der Medizinbereich abgedeckt sei. Dann ist mir irgendwann aufgefallen, daß es seit diesem Buch, welches 1947 erschienen ist, keine weitere Forschung zu diesem Bereich gegeben hat. Von einigen Teiluntersuchungen abgesehen ist eigentlich nur noch von diesem Buch abgeschrieben worden, ohne neue Erkenntnisse mit einzubeziehen. Man muß sich mal vorstellen, daß seit diesem Zeitpunkt auf diesem Gebiet bis zum letztjährigen fünfzigsten Jahrestag der Nürnberger Ärzteprozesse nichts an Aufarbeitung geschehen ist.
F: Wie ging Ihre persönliche Forschung weiter?
Mir war aufgefallen, daß ein Teil der Menschenversuche zuerst in der Psychiatrie gelaufen sind, bevor sie auch in den KZs durchgeführt wurden. Es vollzog sich als Prozeß: Menschen werden umgebracht und verbrannt. Dann kommen die Ordinarien und sagen: Wenn die eh umgebracht und verbrannt werden, können wir doch an den Gehirnen der Toten forschen. Und dann kommen die nächsten, die, wenn die Menschen doch sowieso sterben müssen, an den Menschen vorher noch forschen wollen. Und so hat man angefangen, zumal die Psychiatrie schon in den 20er Jahren z. T. der Versuchsort für die Pharmaindustrie war, an den Menschen Mittel und Präparate zu erproben.
Die Psychiatrie war historisch somit der erste Ort, an dem Menschenversuche stattgefunden haben. Und dann wurde mir irgendwann bewußt, daß die von Mitscherlich und Mielke genannte Zahl von 350 in Medizinversuche involvierten Medizinern viel zu gering und verharmlosend sein mußte.
F: Um welche Art von Medizinern handelte es sich bei den Beteiligten?
Es waren die gestandenen Mediziner, die primär in die Versuche verwickelt waren, nicht die jungen SS-Ärzte. Viele Mediziner hatten schon Karriere gemacht und sahen nun die Chance, nicht mehr allein auf Tierversuche zurückgreifen zu müssen, sondern Menschen als Material zur Verfügung da war.
F: Wie erklären Sie sich den Bruch der ethischen Schranken bei diesen Medizinern?
Da kommen zwei Gründe zur Wirkung. Zum einen der Verweis auf ein höheres Ziel, z.B. die »Gesundung des Volkskörpers«, zum anderen die Abqualifizierung der betroffenen Menschen als minderwertig und »Ungeziefer«. Man hat den Versuchspersonen vorab den Menschenstatus wegdefiniert.
Der Begriff des »lebensunwerten Lebens« kommt ja auch aus der Medizin. Die Nazis haben diesen Begriff übernommen, er wurde schon seit Jahrzehnten in medizinischen un psychiatrischen Aufsätzen propagiert. Dieser Begriff ist also schon lange vor dem Faschismus da.
F: In Ihrem Buch nennen Sie viele Institutionen, die Verbrechen in Auftrag gaben. Welche waren die Hauptauftraggeber?
Die meisten Medizinverbrechen wurden von der Wehrmacht in Auftrag gegeben. Die Wehrmacht konnte während des Krieges die Ärzte einberufen. Diese Ärzte trafen sich mindestens einmal im Jahr zu Tagungen in der militärärztlichen Akademie in Berlin. Aus den Teilnehmerlisten ist ersichtlich, daß da die gesamten Spitzenmediziner des Deutschen Reiches zusammentrafen.
F: Gab es neues Material zu Mengele? Er ist doch die Hauptfigur für Medizinverbrechen?
Mengele ist in der Öffentlichkeit eigentlich als Monster schlechthin bekannt. Zu meinem Erstaunen beschrieben ihn viele Häftlinge jedoch als höflich und gutaussehend, als Mann mit Manieren, gebildet, aber auch als kalt und zynisch. Aber diese Beschreibungen weichen ab von dem »Totschläger«-Abziehbild. Man muß begreifen, daß er nicht zum Morden in Auschwitz war, sondern als Mitglied des Kaiser-Wilhelm-Instituts. Dieser Mann war mit einem Forschungsauftrag dort. Dies ist ein Paradebeispiel für eine Wissenschaft, die alles durfte, was sie immer schon gewollt hatte.
F: Ihrer Meinung nach war dieser unmenschliche Aspekt der Medizingeschichte also schon lange immanenter Bestandteil der deutschen Medizin, der im Faschismus die Möglichkeit der Umsetzung gefunden hat?
Ja, nicht nur in Deutschland. Auch in anderen Ländern gab es diese Forschung an »unwertem Leben«, z. B. an Menschen aus den Kolonien. Dieses eugenische Denken war in den angelsächsischen Ländern weit verbreitet. Und auch auf Seiten der Linken, der Sozialisten, gab es einen richtigen Flügel, der eugenisches Gedankengut vertreten hat.
Aber in Deutschland haben diese eugenischen Gedanken eine neue Qualität angenommen. Hier wurden systematisch Menschen, die als weniger wert galten, ermordet.
F: Wo sind die Triebfedern für das Einreißen der ethischen Grenzen während des Faschismus auszumachen? Ging die Initiative von den Pharmakonzernen aus, die ihre Gewinne maximieren wollten oder von einzelnen Wissenschaftlern, die einfach Karriere machen wollten und dabei über Leichen gingen?
Ich sehe nicht, daß der Aspekt des Gewinns, die Profitmaximierung, die Triebfeder für die Menschenversuche war. Dies war vielmehr die einmalige Möglichkeit, in diesem Umfang Menschenmaterial für die Forschung zur Verfügung zu haben und auszunutzen. Und natürlich die Möglichkeit, Karriere zu machen. Diese Gründe waren viel stärker!
F: Es erstaunt doch, daß es Mediziner waren, die eigentlich schon an der obersten Sprosse der Karriereleiter angekommen waren?
Es waren eigenartige Leute daran beteiligt. Ich nenne hier das Beispiel Prof. Schaltenbrand, der versucht hat, Multiple Sklerose auf Psychiatriepatienten zu übertragen, um die Ursachen der Krankheit herauszufinden. Wenn ihm das gelungen wäre, hätte er den Nobelpreis dafür bekommen. Oder Prof. Schillig in Dachau. Dieser Mann war mehr als 70 Jahre alt, also schon längst pensioniert - der kriegt ein ganzes KZ zur Verfügung gestellt, um seine Theorie der Malariabekämpfung durchzuprobieren. Dieser Mann wollte sein Lebenswerk krönen.
Dieser Punkt ist wahrscheinlich nur durch den Drang nach der absoluten Forschungsfreiheit zu ergründen.
F: Waren die beteiligten Mediziner selbst überzeugte Faschisten oder haben sie das System als Mittel zum Zweck benutzt, um Karriere zu machen?
Diese Frage muß man mit »Ja« und mit »Nein«beantworten. Es gab keinen Berufsstand im »Dritten Reich«, der so stark in der NSDAP und der SS organisiert war, wie die Mediziner. Keine Ahnung, warum. Die hochrangigen Ärzte, die Menschenversuche gemacht haben, waren aber in der Regel keine ausgewiesenen Nazis. Viele waren nicht Mitglied der Partei oder anderer Organisationen. Nazis waren vielmehr die unbedeutenderen SS-Ärzte.
F: Hat es von Seiten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die ja eine der wichtigsten Förderinstitutitonen der Wissenschaftler war und ist, Versuche zu einer Aufarbeitung gegeben?
Die DFG hat ein Buch herausgebracht, welches die Nazizeit zum Gegenstand hat, aber diesem Buch kann man in keiner Weise entnehmen, was geforscht worden ist. Das ist eine große Vernebelungsschlacht. Und das Kaiser-Wilhelm- Institut ist in Max-Planck-Institut umbenannt worden - die Leute sind aber die gleichen geblieben.
F: Wie sah der Umgang mit den beteiligten Medizinern nach 1945 aus?
Die Ärzte sind nicht zur Verantwortung gezogen worden und die wenigen, die im Nürnberger Ärzteprozeß verurteilt worden sind, waren, wenn sie nicht die Todesstrafe bekommen hatten, nach kürzester Zeit wieder draußen. Das Urteil galt noch nicht mal als Vorstrafe. Die Ärzte konnten nahtlos weiterarbeiten, sei es in Universitäten oder als niedergelassene Ärzte. Niemand wurde an irgendetwas gehindert!
F: Waren die Bedingungen zu der Ausarbeitung des Buches »Auschwitz, die NS-Medizin...« leichter als z. B. bei dem Buch über »Euthanasie«? Wurde ihnen mit weniger Skepsis begegnet oder gab es Behinderung bei der Recherche?
Das Klima ist besser geworden. Das liegt daran, daß die Tätergeneration nicht mehr so einen großen Einfluß hat und daß es mehr junge Mediziner gibt, die wissen wollen, was war. Es gibt darüber hinaus auch einen Widerstand, wenn ich Archive betreten will, aber das war immer so - das ist ein normaler Arbeitszustand.
F: Aber die Resonanz war weitaus positiver als auf das Buch »Euthanasie«?
Die war fast komplett positiv! Das Buch ist sogar im Deutschen Ärzteblatt als lesenswert empfohlen worden.
F: Sie haben in Ihrem Buch ja auch Namen von noch lebenden Medizinern genannt. Wie sah deren Reaktion aus?
Ja, es leben noch mehr Mediziner aus dieser Zeit als wir ahnen. Ich habe auch von einigen wenigen Post bekommen. Die loben das Buch teilweise, sagen aber gleich, daß der eigene Name falsch plaziert wurde.
F: Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung im Bereich der Medizin? Am Nürnberger Ärztekodex wird ja von seiten der Forschung stark gerüttelt.
Hier findet der Versuch statt, sich in der Ethik wieder annähernd Arbeitsbedingungen zu schaffen wie in der Nazizeit. Nur, daß man immer beteuert, mit den Nazis nichts zu tun zu haben.
F: Es geht konkret um den Forschungszugriff auf den Menschen. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Wenn die Humangenetik mit der Begründung des Standortes Deutschland wieder fordert, Versuche an nichteinwilligungsfähigen Menschen ohne eigenen Nutzen für diese Menschen durchführen zu können, dann sehe ich ethisch den Versuch der Wiederholung.
Ich sehe, daß da eine Barriere eingerissen werden soll.
Und die Begründung läuft ähnlich: Menschen werden abqualifiziert. Es wird gesagt: Wir nehmen für die Versuche geistig Behinderte und Alzheimer-Patienten - die merken eh nix mehr. Da ist für mich die Parallele, die nicht zu übersehen ist.
F: Wie sehen Sie unter diesen Voraussetzungen die Verhandlungen um die »Bioethik-Konvention« des Europarates?
Also, was mich sehr erschüttert hat, war die Tatsache, daß jemand wie Peter Singer, der so ordinär und unflätig schreibt und Menschen als »Gemüse« bezeichnet, sich durchsetzen kann. Ich dachte immer, solche Gedanken entlarven sich allein durch die Sprache und sind somit gegessen. Aber an diesem Beispiel konnte man sehen, wie hochrangige Wissenschaftler sich hinstellen und das alles verteidigen.
Und daran merkt man, daß alles wiederholbar ist. Den Entwurf dieser Konvention sehe ich als Versuch an, die Tür richtig aufzustoßen!
F: Haben Sie da selbst Befürchtungen, daß eine Wiederholung möglich ist?
Geschichte wiederholt sich ja nicht. Ich sehe nur die Tendenz, Menschen wieder nach ihrer Nützlichkeit einzuteilen. Auch medizinische Versorgung wird nach dem Prinzip der Nützlichkeit ausgerichtet. Man denkt immer, daß dieses Denken einen nicht erreicht. Es erreicht aber jeden - spätestens im Alter. Aber je mehr Leute davon betroffen sind, desto mehr wird auch der Widerstand dagegen wachsen.
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