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Aus: Ausgabe vom 28.05.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Erdoğans langer Arm

»Das ist ein Aufruf zum Mord«

Ankara versucht mit sogenannter Terrorliste, Oppositionelle im Ausland mundtot zu machen. Deutsche Behörden trifft Mitschuld. Ein Gespräch mit Sukriye Akar
Von Annuschka Eckhardt und Nick Brauns
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Der türkische Staat will die gelisteten Personen am liebsten tot sehen, oder mundtot im Gefängnis (Ankara, 29.5.2023)

Am vergangenen Mittwoch haben Sie gemeinsam mit anderen Betroffenen und Unterstützern vor der türkischen Botschaft in Berlin und dem Bundesinnenministerium gegen die sogenannte Terrorliste der Türkei protestiert. Was ist das für eine Liste und wer wird dort genannt?

Auf diese im Internet veröffentlichte Liste kommen die Namen Oppositioneller, die der Erdoğan-Regierung nicht zustimmen. Ich möchte betonen, dass es dabei um Personen geht, die überhaupt nicht in der Türkei leben und auch die ihnen vorgeworfenen Taten finden nicht in der Türkei statt. Auf der Liste stehen zudem viele Menschen, die seit Jahrzehnten gar nicht mehr politisch aktiv sind. Und es kommen auch manche Menschen drauf, einfach nur weil sie Kurden oder Aleviten sind, also nicht der offiziellen Staatsräson der Türkei entsprechen.

Offiziell geht es doch um gesuchte Personen, die aus Sicht der türkischen Behörden als terroristisch eingestuften Organisationen angehören?

Ja, auf der Liste sind Leute, denen eine Mitgliedschaft in angeblichen Terrororganisationen vorgeworfen wird, also zum Beispiel aus dem linken Spektrum der TKP-ML (Kommunistische Partei der Türkei – Marxisten-Leninisten, jW), der MLKP (Marxistisch-Leninistisch-Kommunistische Partei, jW) der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans, jW) und der DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front, jW). Und aus dem rechten Spektrum finden sich angebliche Anhänger der Fetullah-Gülen-Bewegung darauf und sogar vom IS (»Islamischer Staat«, jW).

Betroffen sind auch Journalisten und Intellektuelle. Ein prominentes Beispiel ist der Journalist Can Dündar, der jetzt in Berlin im Exil lebt. Er saß in der Türkei bereits im Gefängnis, weil er in einer Artikelserie der Tageszeitung Cumhuriyet die Verbindungen zwischen dem IS und dem türkischen Geheimdienst MIT enthüllt hatte. Nachdem auf ihn geschossen wurde und er sich seines Lebens nicht mehr sicher fühlte, ist er 2016 nach Deutschland geflohen und wurde dann auf eine Terrorliste gesetzt.

Wer bestimmt nach welchen Kriterien, welche Personen auf der Liste landen?

Diese Terrorliste ist eine Liste des türkischen Innenministeriums. Sie wird von der Polizei und dem Geheimdienst erstellt. Hier wird mit Terrorlisten nach Menschen gefahndet, ohne dass ein Gerichtsbeschluss vorliegt, das widerspricht internationalen Menschenrechtskonventionen.

Den vielen hundert Personen, die auf der Website des türkischen Innenministeriums als angebliche Terroristen genannt werden, sind Farben – rot, blau, orange, und grau – zugeordnet. Was hat es damit auf sich?

Die farblichen Unterschiede beziehen sich auf das Kopfgeld, das von den türkischen Behörden auf die genannten Personen ausgesetzt wird. Auf Personen aus der roten Kategorie gibt es die höchste Fangprämie von drei Millionen Lira, umgerechnet rund 85.000 Euro, auf diejenigen auf der grauen Liste das wenigste Geld, nämlich 500.000 Lira, also rund 14.000 Euro.

Und wer bekommt dieses Kopfgeld?

Das ist in der Tat eine interessante Frage. Denn das Geld wird nicht etwa für Informationen ausgezahlt, die zur Fahndung oder Ergreifung der Personen hilfreich sind, wie es etwa in Deutschland der Fall ist. Denn hier wird ja ein Kopfgeld auf Personen ausgesetzt, die sich gar nicht auf dem Territorium der Türkischen Republik befinden, es geht es vor allem um Menschen, die wie ich in Deutschland oder beispielsweise auch in den Niederlanden oder Griechenland leben – meistens werden diese Länder genannt. Dort haben die türkischen Behörden aber keine Handhabe, und die jeweiligen nationalen Behörden scheinen nicht viel auf solche Hinweise zu geben, denn sonst wären diese Leute ja schon längst verhaftet.

Das Kopfgeld steht also denjenigen zu, die die auf dieser Terrorliste Genannten aufspüren und tot oder lebendig an die türkischen Behörden übergeben. Das wären dann türkische Konsulate oder die Botschaft, die als türkisches Territorium gilt.

Diese Ausschreibung ist also eine offene Aufforderung zu einem Verbrechen. Auf der Internetseite zu den Listen heißt es beispielsweise, die türkischen Behörden wollen als Beleg eine Sterbeurkunde sehen. Auf den Listen wurden auch Menschen aufgeführt, die dann tatsächlich liquidiert wurden. Der türkische Staat will die gelisteten Personen am liebsten tot sehen, diese Listung ist also praktisch ein Aufruf zum Mord.

Was sind die individuellen Folgen einer solchen Listung für die davon betroffenen Personen?

Man ist sich seines Lebens nicht mehr sicher. Zudem riskieren diejenigen, die zwar im Ausland leben, aber noch die türkische Staatsbürgerschaft haben, bei Reisen in Drittstaaten festgehalten und an die Türkei ausgeliefert zu werden. Es gibt eine Reihe solcher Vorfälle aus Bosnien, Serbien oder Albanien. Ein prominenter Fall ist die Journalistin Ayten Öztürk, die 2018 im Libanon von Behörden dem türkischen Geheimdienst übergeben und dann in der Türkei ein halbes Jahr lang in einem Geheimgefängnis gefoltert wurde.

Sind auch Familienangehörige von Gelisteten von Repressalien betroffen?

Auch für sie hat eine Listung weitreichende Konsequenzen, denn sie werden faktisch in Sippenhaftung genommen. In der Türkei werden sie von der Polizei oder Gendarmerie zu Hause aufgesucht, bei Razzien festgenommen und verhört, einfach nur, weil sie mit einer gelisteten Person verwandt, verschwägert oder befreundet sind. Im Ausland lebende Angehörige und Freunde von Gelisteten können also nicht mehr zu ihren Familien oder zum Urlaub in die Türkei reisen, weil sie dort Repressalien befürchten müssen.

Bei Ihrer Protestaktion sind sie auch vor das Bundesinnenministerium gezogen. Was haben denn deutsche Behörden mit der türkischen Terrorliste zu tun?

Es gibt regelmäßige Treffen auf höchster Ebene zwischen den Repressionsorganen und Geheimdiensten Deutschlands und der Türkei. Das hat gerade erst wieder eine Beamtin des Bundeskriminalamtes als Zeugin beim laufenden DHKP-C-Verfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf ausgesagt. Auch der Bundesanwalt hat dies bestätigt. Die BKA-Zeugin hat auch zugegeben, dass die Verfolgung der als terroristisch eingestuften Organisationen bei diesen Treffen auf der Agenda steht – sie hat das natürlich etwas anders formuliert, aber darauf lief es hinaus.

Was erwarten Sie denn von den deutschen Behörden?

Wir fordern von der Bundesregierung, dass sie sofort damit aufhören soll, Informationen an die Türkei weiterzuleiten. Wir haben zudem gute Gründe anzunehmen, dass die Türkei unsere Namen für die Terrorlisten erst von deutschen Behörden geliefert bekommen hat. Die Bundesregierung trägt offensichtlich eine Mitverantwortung dafür, dass wir uns jetzt unseres Lebens nicht mehr sicher fühlen können. Wenn die deutschen Behörden schon leichtfertig Informationen über uns aus der Hand gegeben haben, erwarten wir, dass sie nun wenigstens sicherstellen, dass uns nichts zustößt, dass nicht faschistische Graue Wölfe, Islamisten oder fanatische AKP-Anhänger Hetzjagd auf uns machen. Wir fordern zudem, dass die Website mit der Liste gesperrt wird, dass von Deutschland aus nicht mehr darauf zugegriffen werden kann. Wir sind hier doch nicht im Wilden Westen.

Was bezweckt die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit dieser Liste?

Es geht der Erdoğan-Regierung darum, Angst und Schrecken zu verbreiten. Zum einen will sie uns sozial isolieren. Niemand soll sich mehr trauen, uns zu grüßen, uns zu Feiern einzuladen, da selbst Bilder von uns auf Hochzeitsfeiern, die auf Facebook veröffentlicht werden, zu Repressalien in der Türkei führen können.

Zum anderen geht es der türkischen Regierung darum, uns auf diese Art und Weise einen politischen Maulkorb zu verpassen. In der Türkei werden Oppositionelle ja dadurch mundtot gemacht, dass sie eingesperrt werden, es gibt sehr viele politische Gefangene.

Natürlich gibt es auch im Gefängnis noch Widerstand, etwa durch Hungerstreiks und sogenanntes Todesfasten. Aber wir im Ausland haben viel mehr Möglichkeiten, weiterhin Kritik an der türkischen Regierung zu äußern und die Öffentlichkeit über die Missstände in der Türkei zu informieren. Indem sie uns auf die Terrorliste setzt, hofft die türkische Regierung, uns einzuschüchtern, so dass wir uns nicht mehr trauen, uns öffentlich zu äußern.

Doch Sie lassen sich nicht zum Schweigen bringen, wie dieses Interview hier beweist.

Genau. Ich möchte an alle, die auf dieser Terrorliste stehen, appellieren, sich auf keinen Fall einschüchtern zu lassen. Ganz im Gegenteil sollten wir der AKP-Regierung deutlich machen, dass wir uns in der BRD mit solchen Maßnahmen nicht mundtot machen lassen. Denn wir sind im Recht!

Sukriye Akar ist in Deutschland geboren und seit Jahrzehnten als antiimperialistische Aktivistin sowie in der Solidaritätsarbeit mit linken politischen Gefangenen aktiv. Dazu arbeitet sie eng mit Juristen zusammen wie mit der »Anwaltskanzlei des Volkes« in der Türkei. Derzeit ist Akar Protokollantin der Verteidigung im Verfahren gegen angebliche Mitglieder der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) Düsseldorfer Oberlandesgericht.

Akar selbst wird wegen angeblicher DHKP-C-Mitgliedschaft auf der im Internet stehenden Liste des türkischen Innenministeriums »wegen Terrorismus gesuchter Personen« mit Foto, Namen, Geburtsort- und -datum aufgeführt. Für die Aufhebung eines Haftbefehls der türkischen Justiz sei die Vorlage einer Sterbeurkunde erforderlich, heißt es dort.

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