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Aus: Ausgabe vom 26.06.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Gasimporte der EU aus Russland

Markt schlägt Strafpolitik

Russland bleibt einer der größten Öl- und Gaslieferanten der EU. Direktimporte weiter erlaubt. Geschäft des Umetikettierens läuft
Von Reinhard Lauterbach
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Der riesige Umfang von LNG-Lieferungen aus den USA ist für die »Unabhängigkeit« der EU offenbar kein Problem

Die offizielle Begründung für das am Montag verabschiedete 14. Sanktionspaket der EU gegen Russland war vielsagend. Es solle insbesondere dazu dienen, bestehende Sanktionen »besser durchzusetzen« und »Umgehungsmöglichkeiten« zu beseitigen. Dabei begab sich die EU auf das schlüpfrige Terrain extraterritorial wirkender Sanktionen nach US-Vorbild. Etwa, als sie das Umpumpen von Öl aus Tankern der russischen »Schattenflotte« auf hoher See verbot – also dort, wohin das EU-Recht per Definition nicht reicht. So wurde sich der Hilfskonstruktion bedient, das Umpumpen von Öl auf Schiffe, die EU-Flaggen führen oder deren Reedereien in der EU registriert sind, zu verbieten.

Andererseits beherrscht die EU das Geschäft des Umetikettierens russischer Rohstoffe. Wie der britische Thinktank Chatham House vor einigen Tagen erinnerte, sind EU-Importe von Öl und Gas aus Aserbaidschan und der Türkei zuletzt stark gestiegen. Aserbaidschan hat eigene Gasvorkommen, doch Chatham House fiel auf, dass das Land 2023 einen Vertrag mit Russland über erhöhte Gasimporte schloss – angeblich zur Deckung des Eigenbedarfs. Wer will das nachprüfen? Die Türkei hingegen bezieht Gas aus Russland über zwei Pipelines durch das Schwarze Meer; eine davon dient explizit dem Weiterverkauf nach Europa, aber die Statistik zählt dieses Gas als »Importe aus der Türkei«. Man kann es auch Augenwischerei nennen.

Ein weiterer Treppenwitz der EU-Energiepolitik ist der Umstand, dass Italien unter der Regierung Giorgia Melonis seine Direktimporte russischen Gases zwar reduziert, dafür aber den Gasimport aus Österreich stark erhöht hat. Das Alpenland bezieht nicht mehr, wie 2021, 80 Prozent seines Gases aus russischen Quellen, sondern inzwischen 98 Prozent. Folglich ist das, was das österreichische Verteilzentrum in Baumgarten nahe der Grenze zu Slowakei in Richtung Italien verlässt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Gas aus Russland, wenn es auch über Tausende Kilometer Umweg durch die Türkei und die Balkanländer gepumpt worden ist. Einzige ökonomische Wirkung: Die Kosten für die italienischen Verbraucher steigen.

Etwas anders stellt es sich beim Handel mit verflüssigtem Erdgas (LNG) dar. Von den Sanktionen lange befreit stieg dieser zwischen 2021 und 2023 um 37 Prozent an. Hier ist der französische Total-Konzern der größte Akteur auf dem Markt. Allein seit Jahresbeginn soll er LNG im Wert von 600 Millionen Euro aus Russland importiert haben, wie aus einem Brandbrief französischer Senatoren hervorgeht, die die Regierung aufgefordert haben, auch im eigenen Land mit der »Abkopplung« von russischen Energiequellen Ernst zu machen.

Das jüngste Sanktionspaket der EU wendet sich gegen Dienstleistungen in europäischen Häfen bei der Weiterleitung russischer Rohstoffe in andere Länder. Auf diesem Feld sind vor allem Häfen in Spanien, Frankreich und Belgien aktiv. Der Direktimport von LNG aus Russland zur Verwendung in der EU selbst ist weiterhin nicht verboten. Russland ist mit etwa 20 Prozent der Importe nach wie vor zweitgrößter Lieferant – nach den USA, die sich auf EU-Ebene einen Anteil am Gasmarkt von inzwischen 47 Prozent gesichert haben. Zur Erinnerung: Vor dem Krieg betrug der russische Anteil an der Deckung des Gasbedarfs der BRD etwa ein Drittel, was als gefährliche Abhängigkeit dargestellt wurde. Eine 47prozentige Abhängigkeit von den USA geht offenbar in Ordnung.

Die Chatham-House-Studie sieht die Energiestrategen der EU in einer Zwickmühle (»catch–22«). Einerseits würden sie das politische Ziel verfolgen, Russland von seinen Exporteinnahmen abzuschneiden – andererseits müsse dann aber eine weitgehend neue Infrastruktur aufgebaut werden, und die sei teuer und brauche lange, bis sie sich rentiere. Abgesehen davon, dass sich der Marktpreis für das zum Ersatz für russisches Gas herangezogene Frackinggas aus den USA seit Beginn der Sanktionen vervierfacht hat. Mit anderen Worten: Europa beraubt sich sehenden Auges seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die es ansonsten als Ziel wie eine Monstranz vor sich herträgt. Man kann der EU zu einer solchen Führung nur gratulieren.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (26. Juni 2024 um 12:49 Uhr)
    Die Geschichte zeigt uns immer wieder, dass der Markt stärker ist als jede politische Sanktion. Man mag sich auch noch so sehr bemühen, Handelsströme zu blockieren oder zu manipulieren – der Markt findet stets seinen eigenen Weg. Diese scheinbare Gesetzmäßigkeit lässt sich mit zahlreichen historischen Beispielen belegen. Nehmen wir die Kontinentalsperre Napoleons, die 1806 eingeführt wurde, um Großbritannien wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Napoleon verbot den Handel zwischen den von ihm kontrollierten europäischen Ländern und Großbritannien in der Hoffnung, die Inselnation zu schwächen. Doch was geschah? Der Handel verlagerte sich schlichtweg auf andere Routen. Schmuggler blühten auf, und britische Waren fanden weiterhin ihren Weg auf den Kontinent, oft zu noch höheren Preisen. Die Blockade führte zu einem massiven Anstieg der Schmuggelaktivitäten und einer Verknappung von Gütern, was letztendlich Napoleon mehr schadete als seinen Gegnern. Auch in jüngerer Vergangenheit sehen wir, wie der Markt Sanktionen umgeht. Russland bleibt trotz zahlreicher Sanktionen einer der größten Öl- und Gaslieferanten Europas. Die Sanktionen erhöhen lediglich die Transaktionskosten und Preise, ohne den eigentlichen Handelsfluss zu stoppen. Diese Beispiele illustrieren eindrücklich, dass der Markt, getrieben von Angebot und Nachfrage, stets Mittel und Wege findet, um Sanktionen zu umgehen. Politische Sanktionen mögen kurzfristig Einfluss haben, aber langfristig bleibt der Markt der unangefochtene Sieger. Der Wunsch, den Markt zu kontrollieren, ist ein schöner Traum – doch der Markt schlägt alle Sanktionsträume.

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