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Aus: Ausgabe vom 29.06.2024, Seite 15 / Geschichte
Rassismus in den USA

»Zweite Emanzipation«

Vor 60 Jahren trat in den USA der Civil Rights Act in Kraft. Er beendete formal die »Rassentrennung«
Von Jürgen Heiser
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Civil Rights March in Frankfort, Kentucky, in der Mitte Martin Luther King (1964)

Im transatlantischen Diskurs über die Sklaverei als Ursache des Rassismus in der Gesellschaft der USA herrscht die Annahme vor, die durch den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) geläuterte US-Gesellschaft habe seitdem mittels Bürgerrechten beständig den Rahmen für die Gleichbehandlung der schwarzen Bevölkerung erweitert. Das ist jedoch ein Mythos. Die im Bürgerkrieg unterlegenen Sklavenhalterstaaten der Sezessionisten des Südens setzten schon bald auf diskriminierende Schikanen wie Wahlsteuern und Alphabetisierungstests sowie die berüchtigten »Jim Crow«-Gesetze, um die schwarze Bevölkerungsminderheit von der weißen Mehrheitsgesellschaft getrennt zu halten. Wer sich mit dieser Apartheid nicht abfinden wollte, bekam den Terror des Ku-Klux-Klan und des weißen Mobs zu spüren oder wurde von nicht minder rassistischen Polizeitruppen mit Knüppel und Knarre daran erinnert, wer die Herren im Land sind.

Seit der auf den Bürgerkrieg folgenden Phase der »Reconstruction«, in der die Integration der nunmehr freien »schwarzen Mitbürger« gefördert werden sollte, verabschiedete der US-Kongress jahrzehntelang kein einziges Bürgerrechtsgesetz. Erst 1957, also 92 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei, richtete die US-Regierung während der zweiten Amtszeit des damaligen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower eine Abteilung für Bürgerrechte im Justizministerium ein. Zusätzlich schuf sie eine überparteiliche Bürgerrechtskommission, die diskriminierende Bedingungen in der Gesellschaft untersuchen sollte. Der Schritt geschah nicht freiwillig. In den 1950er Jahren war die Unzufriedenheit der Schwarzen immens gestiegen. Sie wollten nicht nur in Washingtons Auslandskriegen sterben, sondern zu Hause in Würde und Gerechtigkeit leben.

Verfassungswidrig

1954 erklärte der Oberste Gerichtshof der USA die Rassentrennung an Schulen für verfassungswidrig und forderte zum Erlass einer entsprechenden Gesetzgebung in den Bundesstaaten auf. In den Südstaaten formierte sich dagegen eine gewaltbereite rassistische Bewegung. Eisenhower musste 1957 Bundestruppen einsetzen, um schwarzen Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen und sie vor Übergriffen der Rassisten zu schützen. 1957 und 1960 sollten zwei Bürgerrechtsgesetze das Wahlrecht für Schwarze sichern. Beide Initiativen wurden jedoch um der Zustimmung reaktionärer Politiker willen derart verwässert, dass sie kaum Wirkung entfalteten.

Als Eisenhowers Nachfolger John F. Kennedy 1961 das Weiße Haus übernahm, zögerte er zunächst, sich für schärfere Antidiskriminierungsgesetze einzusetzen. Angesichts wachsender Proteste der Bürgerrechtsbewegung in den Südstaaten, die von der Polizei systematisch und brutal unterdrückt wurden, sah Kennedy sich jedoch gezwungen zu handeln. Im Juni 1963 schlug er die bis dahin umfassendste Bürgerrechtsgesetzgebung vor und bekräftigte, dass die USA »nicht völlig frei sein werden, solange nicht alle ihre Bürger frei sind«.

Das Attentat auf Kennedy im November 1963 verzögerte zwar das Gesetzgebungsverfahren. Sein Vize Lyndon B. Johnson, der Kennedys Amtsgeschäfte übernahm, führte die Initiative jedoch fort. Am 2. Juli 1964 wurde das Gesetzespaket eines umfassenderen Civil Rights Acts vom US-Kongress angenommen und durch Johnsons Unterschrift am selben Tag wirksam. In seiner ersten Rede zur Lage der Nation betonte US-Präsident Johnson: »Diese Sitzung des Kongresses soll als die Sitzung bekannt werden, die mehr für die Bürgerrechte getan hat als die letzten hundert Sitzungen zusammen.«

Doch der Weg dahin war steinig gewesen. Im US-Repräsentantenhaus hatten die Gegner argumentiert, der Civil Rights Act schränke »die individuellen Freiheiten und die Rechte der Bundesstaaten verfassungswidrig ein«. Zunächst versuchte die Opposition vergeblich, den Gesetzentwurf im Geschäftsordnungsausschuss des Repräsentantenhauses zu blockieren. Im US-Senat griffen die unerbittlichen Gegner 75 Tage lang zur »Filibuster«-Verschleppungstaktik und versuchten, die Abstimmung durch endlose Redebeiträge zu verhindern. Senator Robert Byrd aus West Virginia, ein ehemaliges Ku-Klux-Klan-Mitglied, sprach in der Debatte über 14 Stunden ohne Pause.

Probleme der Durchsetzung

Am Ende aber unterlagen die Gegner, und das Bürgerrechtsgesetz passierte das Parlament. »Fortan verbot das Gesetz die Rassentrennung in Unternehmen wie Theatern, Restaurants und Hotels. Es verbot diskriminierende Praktiken an Arbeitsplätzen und beendete die Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen wie Schwimmbädern, Bibliotheken und öffentlichen Schulen«, umreißt das US-Nationalarchiv den Inhalt des Gesetzes. »Es verbot die Diskriminierung aus Gründen der Rasse, der Religion, der nationalen Herkunft und des Geschlechts.« Darüber hinaus untersagte das Gesetz die Verwendung von Bundesmitteln für diskriminierende Programme, es ermächtigte das Bildungsministerium, gegen die rassistische Diskriminierung an Schulen vorzugehen, verlieh der Bürgerrechtskommission zusätzliche Befugnisse und verbot die ungleiche Anwendung von Wahlvorschriften.

Reverend Martin Luther King Jr. (1929–1968), der Sprecher der Bürgerrechtsbewegung, bezeichnete den Civil Rights Act als »zweite Emanzipation«. Die offizielle Geschichtsschreibung des Nationalarchivs hebt es bis heute als »die umfassendste Bürgerrechtsgesetzgebung seit der Reconstruction« hervor. Demgegenüber lehnten Kräfte der militanten Bürgerrechts- und Black-Power-Bewegung die Integration in die von Weißen dominierte Gesellschaft ab und propagierten die Schaffung einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegenmacht der Unterdrückten. So auch die Black Panther Party for Self-Defense, die sich auch die Kritik von Malcolm X (1925–1965) an der von christlichen Gruppierungen dominierten Bürgerrechtsbewegung zu eigen machte. Stokely Carmichael und Koautor Charles V. Hamilton schrieben 1968 in ihrem Buch »Black Power«: Der »Druck, den etliche Kirchen ausgeübt haben, um die Verabschiedung der Bürgerrechtsgesetze durchzusetzen«, habe zwar »großen moralischen Einfluss« gehabt. Diese Gruppierungen seien jedoch nur bis zur Verabschiedung der Gesetze aktiv gewesen und nicht mehr, »um die überaus wichtige Durchführung dieser Gesetze in allen Bundesstaaten zu garantieren«.

Während einer längeren Reise durch das sich vom Kolonialismus befreiende Afrika kommentierte Malcolm X 1964 die Verabschiedung des Civil Rights Act mit den Worten: Wenn »eine Gesellschaft ihre eigenen Gesetze nicht durchsetzen« könne, um Menschen, die angeblich »nicht die richtige Hautfarbe haben«, zu schützen, dann müsse man schlussfolgern, »dass diese Menschen das Recht haben, zu allen notwendigen Mitteln zu greifen, um Gerechtigkeit zu schaffen«.

Kein Paradies

Während seiner Afrikareise reagierte Malcolm X 1964 zutiefst verärgert, als er von der Verabschiedung des American Civil Rights Act erfuhr. Auf einer Kundgebung in Harlem Ende November sagte er dazu, der U.S. Information Service erwecke in allen afrikanischen Ländern »den Anschein, dass das Bürgerrechtsgesetz in den Vereinigten Staaten ein Paradies für die 22 Millionen Schwarzen geschaffen hat«. In Oxford erklärte er, das Bürgerrechtsgesetz habe nicht verhindert, dass kurz nach seiner Verabschiedung in Mississippi drei Bürgerrechtsaktivisten ermordet wurden. »Die amerikanische Demokratie ist so rassistisch wie Südafrika, so rassistisch wie Portugal oder wie jede andere rassistische Gesellschaft auf dieser Erde.« Der einzige Unterschied sei, dass »Südafrika Rassentrennung predigt und sie auch praktiziert, (während) Amerika Integration predigt, aber Rassentrennung praktiziert«. Dann erklärte er, warum Bürgerrechtsgesetze und juristische Entscheidungen so wenig an der gelebten Erfahrung schwarzer Amerikaner änderten. »Von den 36 Kongressausschüssen, die die außen- und innenpolitische Richtung der Regierung bestimmen, sind 23 in den Händen von Rassisten aus den Südstaaten.« Diese Ausschüsse könnten dafür sorgen, dass Bürgerrechtsgesetze so »zerstückelt und zurechtgebogen werden, dass sie nach Inkrafttreten nicht mehr durchgesetzt werden können«.

Stephen Tuck: »The Night Malcom X Spoke at the Oxford Union«, Oakland 2014, S. 161 f.

Übersetzung: Jürgen Heiser

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