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Aus: Ausgabe vom 06.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Wörterbuch des Teufels

Der unerschütterliche Glaube an eine Halluzination

Die Aphorismen sprudeln ohne Ende: Wieder und wieder Neues aus Ambrose Bierces unverstopfbarem Nachlass
Von Peter Köhler
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»Zitat: Die fehlerhaft wiedergegebenen Worte eines anderen« – Ambrose Bierce

»Der Fälscher ist nach Strich und Komma entlarvt!« Mit einem fröhlichen Gesicht an seinem Kopf empfängt der Ambrose-Bierce-Spezialist Markus Bomert den Besucher in seinem Büro an der Universität Weinheim und fährt fort: »Der Möchtegerndoktor Andreas Feller ist bis auf die Haut gescheitert. Alle Zitate, die er in seiner Dissertation Ambrose Bierce mit kalter Hand unterschieben wollte, wurden als falsch entlarvt. Und zwar von mir persönlich. Damit bin zugleich ich als einzig wahrer Ambrose-Bierce-Verf… Verw… also Nachlassverwalter rehabilitiert!« Bomert lenkt unseren Blick auf die Wand, an der ein großer Zettel hängt: »Rehabilitierung: Das Eingeständnis, dass der Verbrecher nicht der auf der Anklagebank war.«

Die treuen Leser der jungen Welt kennen den Hintergrund bis in den letzten Winkel. 2018 hatte Bomert, der sich als Pauschaltourist auf einer Gruppenreise durch die USA befand, bei einem Abendspaziergang im Grand Canyon den Leichnam des berühmten, 1914 auf dem Weg nach Mexiko verschwundenen Verfassers des »Wörterbuchs des Teufels« entdeckt und in dessen Jackentaschen weitere diabolische Definitionen gefunden, die er seither der Öffentlichkeit in deutscher Übersetzung vorlegt – das englische Original verwahrt er nach eigener Aussage in einem Tresor, um es vor Mäusefraß zu schützen.

2023 nahm der Fall eine dicke Volte: Der Amerikanistikstudent Andreas Feller behauptete, bei einem Studienaufenthalt in der Universitätsbibliothek von Albuquerque (New Mexico) auf Kladden mit weiteren unbekannten, diesmal garantiert echten Aphorismen von Bierce gestoßen zu sein, und meinte, so einen hundertprozentigen Doktortitel gewinnen zu können (siehe jW, 27. Oktober 2023). »Aber diese Gewissheit konnte ich dem Bürschchen nehmen! Steht ja schon bei ­Bierce, meinem Bierce, also dem richtigen Bierce! Gewissheit: Der unerschütterliche Glaube an eine Halluzination.«

Bomert scheint wie beschwingt, ja beschwipst zu sein, und tatsächlich zaubert er zwei Gläser und eine Flasche Bourbon hervor. »Stoßen Sie mit mir an, dem einzig wahren Ambrose Bierce! Also Übersetzer, wie gesagt und bewiesen!« ruft er und wirft aus seiner Lameng ein eigenes Bonmot, also eines von Bierce, aus: »Nüchternheit: Ein Kater, erzeugt durch Abstinenz.«

In der Tat kann Bomert stolz sein, denn sein Votum als externer Gutachter ließ den stud. phil. Feller mit seiner an der Fernuniversität Hohenstaufen eingereichten Promotion schlussendlich kentern. Bomert hingegen kann sich zufrieden über die Haare oben streichen und mit Mitte 60 den nun sauber gemachten Hafen seiner Pensionierung ansteuern. Tatsächlich scheint er jetzt ein wenig Ruhe und Abgeklärtheit intus zu haben, schenkt sich nach und erlaubt sich bzw. natürlich Bierce, eine kleine Portion Weisheit über sich, den Menschen und die Welt drumherum abzuseilen.

»Hier, echter, alles durchschauender Bierce, ich zitiere aus dem Vollen! ›Universum: Das All, zu groß, dass der Mensch es begreifen könnte, im Unterschied zur Welt der atomaren Teilchen, die zu klein ist, dass der Mensch sie je verstünde. Die goldene Mitte aber verkörpert der Mensch, unfähig zur Erkenntnis seiner selbst. Dazu ist er zu sehr Mittelmaß.‹« Bomert nimmt einen Schluck und fixiert uns, vielleicht weil wir als Mensch gerade zur Verfügung stehen, dann schweifen seine whiskyvollen Gedanken weiter:

»Genau das, papierdünnes Mittelmaß, sind übrigens meine Kollegen, die mir alle bloß meinen Bierce neiden, aber ha… hallo. Hä… hätten sie ihn dddoch selber erf… gefunden!« Damit erhebt sich Bomert schwankend, stützt sich auf dem Schreibtisch ab, stottert: »Hhhier, nnnehm Sie ddds mit!« und wischt mit einer wild gewordenen Hand unwillkürlich allerlei Papiere von der Platte. Wir sammeln ein paar auf, verabschieden uns und hören, als wir die Tür schon hinter uns geschlossen haben, einen großen Bumms und ein Stöhnen. Wir aber gehen die Zettel durch und teilen hier mit, was leserlich genug war:

Armut: Eine Krankheit, deren Therapie nach Ansicht der Wohlhabenden im Wegsehen besteht.

Aufrichtigkeit: Das Merkmal des Beleidigers.

Chat: Ein Kaffeekränzchen im virtuellen Raum, bei dem die Anwesenden durch Abwesenheit glänzen.

Existenz: Kriterium, das den Tauschwert von Menschen regelt: Ist einer tot, rückt der nächste nach.

Firma: Ein gefährlicher Ort. Er ist von Kollegen verseucht.

Ganzes: Teil eines größeren Teiles.

Gebet: Die Befriedigung der Eitelkeit des Allmächtigen durch einen Schnorrer.

Gegenwart: Der schmutzige Rohstoff, aus dem Nostalgie raffiniert wird.

Kompliment: Eine Lüge, die wir verschenken, und eine Wahrheit, die wir erhalten.

Kurswechsel: In Anlehnung an Ambrose Bierce: Eine der Gezeiten jedes Politikers, der der Anziehungskraft der Macht unterliegt.

Lotto: Ein Spiel, das die Wahrscheinlichkeit für einen Lottogewinn unwesentlich erhöht.

Mitdenken: Sich ausnutzen lassen.

Nationalstolz: Die Anerkennung der Kollektivschuld – aber nur am Guten und Schönen.

Neolithikum: Geschichtliche Epoche, in der der Mensch domestiziert wurde und für seine Haltung erstmals Häuser und dann Städte angebaut wurden.

Phantasie: Jenes Reich, in dem du Freunde hast und erfolgreich bist, deine Wünsche erfüllt und alle Träume wahr werden.

Rationalisierung: Die Neutronenbombe der Betriebswirtschaft: Die Menschen verschwinden, die Maschinen bleiben.

Reklame: Der goldene Mittelweg zwischen Hochstapelei und Lüge.

Schirm: Den kann auch ein alter Mann noch stehen lassen.

Umdenken: Alte Klischees gegen neue Scheuklappen eintauschen.

Unglück: Ein Ereignis, das froh stimmt, wenn es einen Feind trifft; aber wenn es einen Freund trifft, erleichtert es.

Utopie: Irgendwie der beste Ort, wo das Irgendwo das Irgendwann trifft. Zu irgendwas.

Vertrag: Eine Vereinbarung zwischen zwei Parteien, die für die schwächere bindend ist.

Wissenschaft: Der Aberglaube der Gelehrten. Weltliche Glaubensinhalte; mit der Zeit bis zum Gegenteil wandelbar. Ewiger Schatz von Erkenntnissen, der von heute auf morgen wertlos werden kann. Born der Wahrheit, veränderlich nach Zeit, Ort und Interesse.

Wunderheilung: Ein Stärkungsmittel im Glauben, das in Lourdes produziert und den Christen in aller Welt verabreicht wird. Es wirkte noch überzeugender, wenn die Millionen Kranken, die in Lourdes nicht geheilt werden, in den Chor einstimmen könnten.

Zinsen: Der Vorteil, wenn das Geld sich nützlich macht statt man selbst.

Zugeständnis: Ein Klacks, wenn du es von einem anderen einforderst, und eine große Bürde, wenn du eines machen sollst.

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