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Aus: Ausgabe vom 09.07.2024, Seite 1 / Titel
Frankreich-Wahl

Volksfront schlägt Le Pen

Wahlen in Frankreich: Sieg der vereinten Linken. Mehrheit wollte weder Staatschef Macron noch Rechtsaußen
Von Hansgeorg Hermann
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Jubel auf der Place de la République in Paris am Sonntag abend

Das französische Volk hat gewählt, in Massen, wie seit 50 Jahren nicht mehr. Es überraschte bei außerordentlich hoher Wahlbeteiligung (66,7 Prozent) alle politischen Orakel und kürte am Sonntag im zweiten Durchgang die Linke zum Sieger der vorgezogenen Parlamentswahlen. Zum ersten Mal seit 1936 wieder vereint unter dem Banner der Neuen Volksfront (Nouveau Front Populaire), wies sie am Sonntag die extreme Rechte des Rassemblement National (RN) in die Schranken und wurde stärkste Kraft der neugewählten Assemblée Nationale. Die wird am 18. Juli zu ihrer ersten Plenarsitzung zusammenkommen. Mit 182 Abgeordneten lag das linke Bündnis vor allen anderen Parteien und kann – wie es die Verfassung vorsieht – von Staatschef Emmanuel Macron die Führung einer Regierung einfordern.

Der gegenwärtige Premier Gabriel Attal, ein Günstling des Präsidenten, reichte am Montag morgen seine Demission ein. Macron lehnte das Rücktrittsgesuch des Premierministers jedoch ab. Auf den Plätzen hinter der Volksfront folgten laut offiziellem Wahlergebnis der rechtsliberale Bürgerblock Macrons, Ensemble, mit 168 Abgeordneten und mit 143 Sitzen erst an dritter Stelle der mit bekennenden Faschisten durchsetzte RN. Sein Spitzenkandidat Jordan Bardella war in den Tagen nach der ersten Tour in Umfragen und in den Medien des Landes schon als vermutlich neuer Regierungschef bezeichnet worden. Er erklärte die Niederlage am Sonntag abend zu einem nur »vorläufigen« Ergebnis, das nicht das wahre Meinungsbild des französischen Volks abbilde. Er versprach, die nächste Präsidentschaftswahl im Jahr 2027 zu gewinnen. Marine Le Pens Bewegung wird in den kommenden drei Jahren nun zwar keine Regierung anführen, übertraf allerdings ihr eigenes Wahlergebnis aus dem Frühjahr 2022 um 54 Sitze und ist stärkste Einzelpartei im Parlament – die Volksfront setzt sich aus vier, Macrons Bürgerblock aus drei Einzelparteien zusammen.

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Die Medien hatten Le Pens Ultrarechte bereits zum Wahlsieger hochgejubelt (Paris, 7.7.2024)

Sprecher des Front Populaire – Jean-Luc Mélenchon für La France insoumise (LFI), Olivier Faure für die Sozialisten (PS) wie auch Marine Tondelier für die Grünen (EE-LV) – versprachen noch am Wahlabend: »Wir werden regieren, Punkt für Punkt dem gemeinsamen Programm folgend.« Dieses enthält drei prinzipielle Forderungen: die Annullierung der »Rentenreform« des Präsidenten und die Zurückstufung des Renteneintrittsalters von 64 auf 60 Jahre, die Rücknahme der unter Macron zugunsten der Unternehmer vorgenommenen Verschärfung der Beschäftigungslosenversicherung und die Ablehnung der in der EU und im Land beschlossenen Abschieberegeln für unerwünschte Immigranten.

Nicht entschieden ist, wer für die Volksfront eine künftige Minderheitsregierung führen könnte. Die Allianz verfügt jedoch über keine absolute Mehrheit. Eine von ihr gebildete Regierung könnte sich allerdings – wie schon Macrons Minderheitskabinett in den vergangenen zwei Jahren – mit Dekreten über die nächsten Monate retten und etwa den Haushalt mit Hilfe des Verfassungsartikels 49.3 ohne Parlamentsvotum verabschieden. Unsicher ist auch, mit welchen Ansprüchen sich LFI-Patron Mélenchon zu Wort melden wird, den seine Partner auf keinen Fall zum Regierungschef machen wollen. Der solle vielmehr »demokratisch« ausgewählt und samt Kabinett bis zum Wochenende vorgestellt werden, verkündete der grüne Senator Yannick Jadot am Montag morgen im TV-Kanal France Info. Als mehrheitsfähig gilt Grünen-Chefin Tondelier.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Michael T. aus Paris (9. Juli 2024 um 10:51 Uhr)
    Die Katastrophe ist zwar zunächst abgewendet, gewonnen ist aber noch nichts. Hoch einzuschätzen ist, dass sich sogenannte linke Parteien in Frankreich bereits 24 Stunden nach der Auflösung des Parlaments zu einem Anti-Rechts-Bündnis zusammengeschlossen haben. Ebenso, dass es ihnen gelang, dazu ein umfangreiches Programm zu formulieren, das die schlimmsten Macrontaten, wie die Rentenreform, rückgängig machen und die Superreichen stärker besteuern will: Auf Initiative der während des Wahlkampfs zum Teil von den eigenen Bündnispartnern verteufelten LFI bzw. ihres Frontmanns Jean-Luc Mélanchon. Der gewonnenen parlamentarische Position, als stärkste (fragile) Fraktionsgemeinschaft fehlt der Rückhalt in der Wählerschaft: Hier hat das Linksbündnis unter 26 Prozent mit mehr als zwei Millionen Stimmen hinter dem RN und seinem Partner, »Union d’extrême Droite«, mit insgesamt über 37 Prozent der Stimmen. Zudem müssen erstmal parlamentarische Mehrheiten für die Vorhaben der Linken hergestellt werden. Sollte ein etwaiger linker Ministerpräsident deren Fehlen mit dem Dekret aufgrund des Artikels 49-3 ersetzen wollen, wird die geschlossene Front der privaten und rechten Medien auf Basis der Haltung der rechten Wählerbasis massiv dagegen Stimmung machen. Die CGT betont jetzt, weiter Mitglieder zu gewinnen. Doch damit ist noch lange nicht die Mobilisierungsschlappe aus den fehlenden Streiks gegen die Rentenverschlechterung behoben. Die Reformen der Front Populaire in den Dreißigerjahren wurden nur auf Basis einer massiven Streikmobilisierung erreich. Dieser fehlt derzeit die organisatorische Basis in den Betrieben. Die Millionen auf der Straße gegen das Rentengesetz haben die »Patrons« als die Mächtigen über die meisten Parteien und Medien nicht beeindruckt. Ob und wie sich jetzt bildende Komitees zur Unterstützung der NFP und soziale Bewegungen das ausgleichen können, bleibt zu diskutieren. Gelingt der Linken kein Erfolg, ist der Weg für Le PEN in drei Jahren geebnet.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (8. Juli 2024 um 21:50 Uhr)
    Die Zahl der gemäßigten Abgeordneten, links wie rechts, scheint tatsächlich größer zu sein als die der radikalen, was aber durch das französische Wählersystem nicht der Wählerstimmen entspricht! Emmanuel Macron sei einen Pakt mit der extremen Linken eingegangen. Dieser Pakt ist allerdings brüchig, auf die Parteien kommt eine schwierige Regierungsbildung zu. Außerdem wäre ein solches Bündnis ein Novum für das Land, das keine Koalitionen kennt und dessen politische Kultur bislang wenig Spielraum für Kompromisse lässt. Eine richtige Koalition mit inhaltlichen Ansprüchen wäre ungemein schwer aufzubauen, weil die inhaltlichen Differenzen riesig sind. Es gibt nur einen Verlierer: die gutgläubigen Franzosen, die sich von dieser Wahl einen Wandel erhofft hatten, nun aber eine Art Status quo in schlimmerer Form vorfinden, eine unregierbare Nationalversammlung und eine französische Politik, die im absoluten Chaos versinkt. Wie viel wird dieses zweiwöchige absurde Psychodrama das Land am Ende gekostet haben, in Bezug auf hysterische Uneinigkeit, Spannungen zwischen den Franzosen, Radikalisierung auf der rechten sowie auf der linken Seite, Gewalt, Angst und Schrecken, enttäuschte Hoffnungen, Verluste für die französische Wirtschaft und verlorene Zeit? Frankreich begibt sich ins Ungewisse.

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