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Aus: Ausgabe vom 16.07.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Zoonose

Vor der nächsten Pandemie?

Das Vogelgrippevirus H5N1 breitet sich explosionsartig aus. In den USA ist es zuerst auf Rinder, wenig später auf Menschen übergesprungen
Von Michael Kohler
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Vogelgrippeviren im Test (14.1.2023)

In der niedersächsischen Grafschaft Bentheim lässt Kreisveterinär Hermann Kramer am 29. Juni einen Geflügelbetrieb wegen des Verdachts auf Vogelgrippe schließen. Betroffene Tiere werden sofort zur Untersuchung an das Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) eingeschickt. Noch bevor die Ergebnisse vorliegen, werden, wie es bereits im Verdachtsfall vorgeschrieben ist, gleich am Montag alle 91.000 Legehennen des Betriebs getötet. Am Dienstag bestätigt die Diagnose des FLI: Bei den Tieren wurden Geflügelpestviren des Typus H7N5 gefunden. Erst kurz zuvor hatte sich dieser Typ der Vogelgrippe von einer gering pathogenen zu einer hoch pathogenen Form verändert. Um den betroffenen Betrieb werden im Radius von drei Kilometern eine Schutzzone und in einem Radius von zehn Kilometern eine Überwachungszone ausgerufen. Die Tiere in diesen Bereichen müssen aufgestallt und von sogenannten Wildtieren streng isoliert werden, dürfen nicht transportiert und nicht ohne besondere Erlaubnis getötet werden. Hiervon betroffen sind 314 Betriebe mit etwa 1,5 Millionen Vögeln. Frühestens nach 21 Tagen dürfen die Maßnahmen aufgehoben werden – falls kein neuer Fall auftritt.

Auch das niedersächsische Landwirtschaftsministerium wird rasch aktiv. Es fordert die Betriebe auf, ihre Tiere zu beobachten und sich bei klinischen Symptomen umgehend an das Veterinäramt zu wenden. Es weist darauf hin, dass das in der Region durch frühere Ausbrüche bestens bekannte Vogelgrippevirus sich möglicherweise besser an Säugetiere angepasst hat. Um zu prüfen, ob nicht wie in den USA auch Rinder infiziert und Viruspartikel in die Milch gelangt sind, prüft das Landesamt für Verbraucherschutz Milchproben aus 268 Milchviehbetrieben mit negativen Ergebnissen.

Ausbreitung in den USA

Ganz anders gestalten sich die Dinge in den USA, wo die Vogelseuche nicht nur auf Rinder übergegangen ist, sondern sich auch weiter auf Menschen übertragen hat. Die Tierindustrie verheimlichte zunächst lange die H5N1-Ausbrüche bei Rindern, die, wie Analysen ergaben, sich bereits ab November 2023 ereigneten. Seitdem blockiert sie fast alle Schutz- und Präventionsmaßnahmen, lässt weder die Untersuchung der Tiere noch der Mitarbeiter oder der Milch zu. Bis Anfang Juli wurden in den USA nur etwa 50 Mitarbeitende auf H5N1 untersucht. Erkrankte Tiere oder Menschen werden im Verdachtsfall nicht unter Quarantäne gestellt und bei einem bestätigten Verdacht nicht isoliert, wodurch sich H5N1 in den Tierbeständen extrem schnell verbreiten konnte. Auch die Empfehlung der Behörden, beim Umgang mit möglicherweise infizierten Rindern Masken, Schutzbrillen und Schutzhandschuhe zu tragen, wird, so weit bekannt, nicht befolgt. Erkrankte Tiere haben Fieber, sind lethargisch, die Milchleistung ist stark reduziert, die Milch eitrig verfärbt und eingedickt. Obwohl also ein Krankheitsverdacht leicht festzustellen ist, macht die Tierindustrie keine Angaben über erkrankte Tiere und verweigert den Behörden den Zutritt zu Betrieben. Daher wird versucht, die Ausbreitung der Seuche durch Untersuchungen der schon im Handel befindlichen Milch abzuschätzen. Ende Juni wurden in jeder fünften Milchpackung H5N1-Partikel gefunden, die allerdings aufgrund der Pasteurisierung nicht mehr infektiös waren.

Der Virologe Klaus Stöhr, bis 2007 Leiter des globalen Influenzaprogramms der Weltgesundheitsorganisation (WHO), schätzt Anfang Juli gegenüber dem Deutschlandfunk die Zahl der erkrankten Rinder auf mehrere Hunderttausend. Offiziell sind bisher vier Menschen erkrankt, in drei Fällen soll eine Bindehautentzündung das einzige Symptom gewesen sein, in einem vierten Fall trat auch Husten auf. Hier ist ebenfalls von einer enormen Dunkelziffer auszugehen, auch weil die Beschäftigten in der Tierindustrie weitgehend entrechtet zu niedrigsten Löhnen arbeiten und sich einen Arztbesuch meist nicht leisten können.

Das H5N1-Virus gehört wie alle Influenzaviren und wie auch das SARS-Cov-2-Virus zu den RNA-Viren, die sehr viel schneller als DNA-Viren mutieren. Ihre Mutationsrate ist im Vergleich zu der ihrer Wirte etwa einmillionmal höher. Außer dieser enormen Mutationsfähigkeit kommt es auch zu sogenannten Rekombinationen, das heißt, sie können ganze Abschnitte ihres Genoms miteinander tauschen. Je mehr Viren dieses Typs in der Welt sind, desto mehr Mutationen und Neukombinationen entstehen, und je mehr die Viren auf die für sie idealen Bedingungen der Massentierhaltung treffen, desto näher rückt eine Pandemie. RNA-Viren besitzen vor allem im Falle einer starken Ausbreitung eine hohe genetische Vielfalt, die sich logischerweise um so mehr vergrößert, je höher die Anzahl der Viren ist und je günstiger ihre Umgebungsbedingungen sind. Die sich entwickelnde genetische Vielfalt begünstigt wiederum die weitere Ausbreitung, weil sie die Viren dazu befähigt, immer weitere Abwehrsysteme potentieller Wirte zu überwinden. Sie kann auch die Wirksamkeit von Impfungen begrenzen.

Eine zentrale Bedingung für die beobachtbare Verbreitung zoonotischer Mikroben liegt in der gewaltigen Zunahme der Zahl sogenannter Nutztiere. 1970 wurden weltweit etwa vier Milliarden Hühner gehalten, um die Jahrtausendwende waren es etwa 14 Milliarden, aktuell sind es fast 27 Milliarden. Nur noch etwa 30 Prozent der Vögel dieser Welt leben in Freiheit, 70 Prozent sind sogenannte Nutztiere, von denen wiederum 90 Prozent in Massentierhaltungen leben. Prognosen sehen eine weiter wachsende Fleischproduktion, vor allem bei Geflügel.

Die Viren der sogenannten Vogelgrippe – die fachlich korrekte Bezeichnung ist Geflügelpest – werden benannt nach zwei Eiweißkörpern auf ihrer Oberfläche. Das Hämagglutinin (H) ist für die Bindung und das Eindringen in eine Wirtszelle verantwortlich. Findet es auf dessen Oberfläche einen Rezeptor, zu dem es passt wie ein Schlüssel zum Schloss, kann es die Wirtszelle infizieren. Es prägt sowohl die Infektiösität des Virus als auch dessen Kontagiosität, das heißt seine Fähigkeit, von einem Individuum auf ein anderes der gleichen Art überzugehen. Der zweite namensgebende Eiweißkörper ist die Neuraminidase (N), die die Infektion unterstützt und dafür sorgt, dass Viren aus infizierten Zellen ausgeschleust werden und sich im Organismus ausbreiten können. Sie ist damit maßgeblich für die Pathogenität des Virus. Es sind 18 Varianten des Hämagglutinin (H) und elf der Neuraminidase (N) bekannt. Durchnummeriert werden sie zur systematischen Bezeichnung verwendet. Die sogenannte Spanische Grippe von 1918, die vorsichtig geschätzt 40 bis 60 Millionen Menschen tötete (neuere Untersuchungen gehen von 60 bis 100 Millionen aus) wurde verursacht durch das Vogelgrippevirus H1N1. Vermutlich ging es zunächst auf Schweine und von diesen dann auf Menschen über, aber auch eine direkte Infektion von Menschen durch Vögel wird für möglich gehalten.

Seit 2016 und besonders seit 2021 verbreitet sich explosionsartig eine H5N1-Untergruppe, die sogenannte Klade 2.3.4.4b. Vor Jahren schon wurde der Seuchenzug von der Weltorganisation für Tiergesundheit (WOAH) als die größte unter Tieren je dagewesene Seuche bezeichnet und die Zahl der getöteten Vögel auf 200 Millionen geschätzt. Es sind ebenfalls Viren dieser Klade, die in den USA auf mittlerweile circa 140 Rinderherden in zwölf Bundesstaaten übergesprungen sind.

Die WOAH veröffentlicht monatlich die ihr gemeldeten Ausbrüche der Vogelgrippe H5N1 bei Säugetieren. Als Ausbruch gilt die Zunahme von Krankheitsfällen in einem bestimmten geografischen Bereich. Die erste Meldung kam 2015 aus China. Bis Juni 2024 wurden insgesamt 450 Ausbrüche gemeldet. Von einer beträchtlichen Dunkelziffer ist auszugehen, vor allem bei Meeressäugern, die unbemerkt sterben sowie in dünn besiedelten Gebieten und in Ländern mit mangelhaft ausgestatteten Gesundheitssystemen. Deutschland meldete 45 Ausbrüche ab Mai 2023, Kanada 45 Ausbrüche ab Mai 2022, Finnland 76 Ausbrüche ab Juli 2023. Die USA nehmen die absolute Spitzenposition ein, hier kam es zu 286 Ausbrüchen ab Mai 2022. Mehr als ein Dutzend weitere Länder meldeten bei Säugetieren Ausbrüche der hochpathogenen Vogelgrippe anderer H5-Varianten (H5N2, H5N8 u. a.). Dazu zählten vor allem Argentinien, Chile, Uruguay und das Vereinigte Königreich.

Der Virologe Christian Drosten beurteilte die Lage beim Redaktionsnetzwerk Deutschland Ende Juni wie folgt: Die Ausbreitung der Vogelgrippe unter Säugetieren kann auch glimpflich ablaufen, da das Virus vor der möglichen Pandemie noch einige Anpassungsschritte braucht. »Aber es kann auch schon der Anlauf zu einer nächsten Pandemie sein, den wir hier live mitverfolgen.«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (16. Juli 2024 um 15:05 Uhr)
    Am Rande sollte man das erwähnen: »Es wurde kontaminierte Abfälle aus der Geflügelmast (vermutlich inklusive Kadaver und Kot) an Rinder verfüttert.« So steht es im Kommentar zum Beitrag »USA: Vogelgrippe bei Kühen überrascht Virologen« (https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2024/04/29/vogelgrippe-bei-kuehen-ueberrascht-virologen-gefahr-fuer-menschen).

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