75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Freitag, 13. September 2024, Nr. 214
Die junge Welt wird von 2927 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 18.07.2024, Seite 1 / Titel
Reform der Notfallversorgung

Reanimation zu spät

Rettungsdienste schaffen es selten, Vorgaben zur Notfallversorgung einzuhalten. Reform geht Grundproblem nicht an
Von Susanne Knütter
Reform_der_Notfallve_64083228.jpg
Nur 24 von 283 Rettungsdiensten gelingt es, wie medizinisch empfohlen, innerhalb der ersten acht Minuten nach Notrufeingang mit der Reanimation von Herzstillstandspatienten zu beginnen

Das Problem ist nicht das heruntergerockte Gesundheitssystem; es sind die Menschen, die es in Anspruch nehmen. Diese Einschätzung scheint auch dem neuesten Gesetzentwurf des Gesundheitsministeriums wieder zugrunde zu liegen. Das Kabinett hat den Entwurf am Mittwoch auf den Weg gebracht. Das Gesetz soll Rettungsdienste und Kliniken entlasten, sieht aber in erster Linie die Steuerung von Patienten vor.

Mit der Reform sollen »Integrierte Notfallzentren« (INZ) als Anlaufstellen in Kliniken entstehen, die einen je nach Dringlichkeit weiterleiten – in die Notaufnahme oder in eine Notdienstpraxis. Ausgebaut werden sollen solche Ersteinschätzungen zur Dringlichkeit auch in künftigen »Akutleitstellen« mit der Telefonnummer 116 117. In einem zweiten Schritt soll dann eine Reform des Rettungsdienstes erarbeitet werden. Im Blick hat SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach hier bundesweite Mindeststandards.

Kommen zu viele Patienten in die Rettungsleitstellen, die gar keine Notfälle sind? Kann schon sein. Steffen Lüder, der Kinderarzt in Berlin-Hohenschönhausen ist und regelmäßig auch in Kinderrettungsstellen aushilft, bestätigte das im Gespräch mit jW am Mittwoch. Von 310 Kindern, die er während seines Rettungsdienstes in den Osterfeiertagen behandelt hatte, musste er nur fünf oder sechs stationär einweisen.

Vergangenes Jahr wurden in den Rettungsstellen der Berliner Kinderkliniken rund 120.000 Kinder und Jugendliche behandelt, 51.000 davon an Arbeitstagen zwischen acht und 18 Uhr. Dass das so ist, hat mehrere Gründe, so Lüder: Mangel an Hausärzten, das unterschiedliche Empfinden darüber, was ein Notfall ist, und Fehlanreize beim Abrechnungssystem: Wo die medizinische Einschätzung stattfindet, wird abgerechnet. Um nicht vollends in die Miesen zu geraten, müssten Ärzte Patienten komplett ohne Untersuchung wegschicken. Und dann bleibt die Frage: Wohin? In zwei Ostberliner Bezirken seien laut Kassenärztlicher Vereinigung allein acht Sitze für Kinderarztpraxen vakant.

All das geht das Reformvorhaben sowenig an wie die defizitäre Finanzierung der Notfallversorgung. »Rettungsstellen sind für Krankenhäuser immer ein Verlustgeschäft. Sie rechnen sich nur, wenn dort bereits viel Diagnostik gemacht wird und dann eine Aufnahme erfolgt«, erklärte die gesundheitspolitische Sprecherin der Gruppe Die Linke, Kathrin Vogler, am Mittwoch.

Die Reform der Notfallversorgung ist wie die Krankenhausreform Teil der Bestrebungen, das Krankenhauswesen zu zentralisieren, erklärte Jorinde Schulz vom Bündnis Klinikrettung gegenüber jW. Zwischen 350 und 550 Krankenhäuser fallen mit dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz voraussichtlich weg, so Schulz. »Die Gleichung ist ganz einfach: Gibt es kein Krankenhaus, kommt auch kein Integriertes Notfallzentrum zustande.« Die Notfallversorgung werde also weiter abgebaut. Hinzu komme, dass Lauterbachs Gesetzentwurf nicht einmal vorsieht, »allen der noch übrig bleibenden befähigten Krankenhäuser automatisch ein INZ zuzuteilen«.

Dabei dauert die Versorgung von Notfallpatienten schon jetzt häufig zu lange, ergab eine am Dienstag abend veröffentlichte SWR-Umfrage unter 283 Rettungsdiensten. Lediglich 24 Einrichtungen gaben an, Reanimationen von Notfallpatienten, wie medizinisch empfohlen, in weniger als acht Minuten zu schaffen. Der desolate Zustand wird sich mit der Reform weiter verschärfen. Zufall ist das nicht.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

  • Leserbrief von Peter Groß aus Bodenseekreis (18. Juli 2024 um 12:24 Uhr)
    Zu spät, zu spät, Dr. Gnadenlos und heiße Tränen am Bodensee. Als Zuu spät, zuu spät intoniert meine Gesprächspartnerin (Rettungssanitäterin) ihren Ohrwurm, das Martinshorn. Den SPD-Dr., nennt sie Dr. Gnadenlos, weil er auf unerträgliche Weise eine für Tausende tödliche Politik betreibt. Sein Krankenhausbedarfsplan berücksichtigt nicht, dass die Bevölkerung saisonbedingt in den Urlaubsgebieten um ein Vielfaches größer ist, die Straßen eng und überfüllt sind. Eine Folge ist, dass Touristen im Leichenwagen manch romantischen Urlaubsort am Bodensee verlassen. Eine Oberärztin des zum Medizin Campus Bodensee gehörenden Klinikum Friedrichshafen erhob schwerste Vorwürfe gegen die Klinikleitung:[…] »das medizinische Personal sei dauerhaft überlastet. Deshalb habe es vermeidbare Todesfälle gegeben. Bekannt wurde dies, als sich die Ärztin Anfang Dezember mutmaßlich selbst tötete.« Ja eben, bis heute »mutmaßlich«, weil die »fliegende« Notärztin in eben dem Krankenhaus (zu spät) notversorgt wurde, das von Mobbing bis arbeitsrechtlichen Drohungen alle Spielarten gemeinster Arbeitnehmerbehandlung anwandte, die möglich sind. Einem Menschen Suizid bei gleichzeitig vollständiger Namensnennung zu unterstellen, bedeutet für Angehörige im erzkatholischen »The Länd«, Fegefeuer. Der betroffene Chefarzt verließ das Krankenhaus. Seine Assistenzärzte blieben, weiterhin bedroht, allein vom Vorwurf des Abrechnungsbetruges. Zurück zu den Rettungssanitätern, die wegen langer An- und Rückfahrten unerträglich belastet werden und viel zu oft zu spät kommen, um schwerwiegende Gesundheitsfolgen oder den Tod abzuwenden. Es ist oft nicht möglich, Krankenhausbetten in der Nähe zu finden. So dauert die Anfahrt zu lange, der Weitertransport kann Stunden dauern. Die schnelle Hilfe versagt zusätzlich wegen fehlender Rettungswagen. Dann fließen die heißen Tränen, weil man unendlich viel Geld den Pharmageiern in den Hintern schiebt und die Heilbehandlung aller anderen Versorgungssparten unterversorgt lässt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (18. Juli 2024 um 11:21 Uhr)
    Die Überlastung der Rettungsstellen und die Vielzahl unnötiger Rettungsdiensteinsätze lässt sich wie folgt begründen: Abnahme der Zahl der Haus- und Fachärzte. Unzureichende Kapazitäten bzw. Qualitätsmängel in der Pflege (häuslich, ambulant, stationär). Anspruchsdenken der Bürger. Unkenntnis bzw. (oberflächlichem) »Wissen« aus dem Internet vieler Menschen über Krankheiten usw. Hilflosigkeit bzw. Lebensuntüchtigkeit beim Umgang mit Bagatellverletzungen usw. Obige Gründe resultieren direkt bzw. indirekt aus dem Kapitalismus. Die Quote erfolgreicher Reanimationen (Herz-Lungen-Wiederbelebung) ließe sich nur erhöhen durch verpflichtende Schulungen aller Mitbürger – in Schulen; Universitäten; Betrieben. Denn wissenschaftlicher Konsens ist, dass nur eine schnell eingeleitete, effektive Herzdruckmassage und – wenn vorhanden – der Einsatz eines automatischen Defibrillators (AED) die Chancen erhöht, dass Patienten nach einem Herzstillstand ohne neurologische Folgeschäden überleben. Ohne die Ersthelfer ist jeder Rettungsdienst nutzlos, möge er noch so flächendeckend sein.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (17. Juli 2024 um 20:17 Uhr)
    Die Reform muss in einem größeren Zusammenhang gedeutet werden: Eine nicht erfolgte oder zu spät begonnene Reanimation entlastet die Rentenkasse. Entweder durch sofortige Beendigung der Rentenzahlung oder Wegfall des späteren Rentenanspruchs. Der Volksmund kennt das schon lange: Verträgt er’s, ist es gut für ihn, verträgt er’s nicht, dann ist er hin.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (18. Juli 2024 um 11:39 Uhr)
      Ihre Zuschrift ist nicht analytisch, sondern ideologisch. Sie verwechseln erstens die Krankenhausreform mit der Problematik einer Reanimation. Zweitens werden auch Leute reanimiert, bei denen es eigentlich aussichtslos ist, da Ersthelfer, die für einen Erfolg unabdingbar sind, nicht einschritten bzw. nicht vorhanden waren. Und drittens werden auch diese Patienten dann oft in Krankenhäuser transportiert, wo sie auf der Intensivstation versterben – also Maximalversorgung! Aus 25jähriger Berufserfahrung im Rettungsdienst kann ich Ihnen versichern, dass niemand einfach so für tot erklärt wird – Ausnahmen schmälern nicht das grundsätzliche Engagement der ärztlichen und nichtärztlichen Mitarbeiter. Das deutsche Rettungsdienstsystem ist bei allen Fehlern das bestausgebaute der Welt – nirgendwo sonst finden Sie so viele Fahrzeuge und Luftrettungsmittel!
      • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (18. Juli 2024 um 23:07 Uhr)
        Meine Zuschrift ist weder analytisch noch ideologisch, sie ist zynisch, so gemeint und der Situation angemessen. Am Rande sei erwähnt, dass ich einen jährlichen Beitrag für einen DRF-Rettungshubschrauber leiste, seitdem die Bundeswehr/der Bund den Betrieb eines solchen eingestellt hat.

Ähnliche:

Regio: