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Aus: Ausgabe vom 23.07.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Schwerpunkt

Realpolitik in Ulan-Bator

Mongolei: Durch die »Zeitenwende« steigt das Interesse an dem Land. Das wiederum versucht, mit allen Akteuren gute Beziehungen zu pflegen
Von Eike Seidel
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Lange Geschichte: Mongolische Ehrenwachen vor der ersten Sitzung des neugewählten Parlaments (Ulan-Bator, 2.7.2024)

Mehr als viermal so groß wie Deutschland, mit nur etwa 3,5 Millionen Einwohnern das wohl am dünnsten besiedelte Land der Erde, touristisch verklärt als die Heimat der letzten Nomaden, eines der rohstoffreichsten Länder der Erde, ohne Zugang zum Meer, mit Grenzen lediglich zu Russland und der Volksrepublik China – das ist die Republik Mongolei.

Zu beiden Nachbarn sind die Beziehungen Ulan-Bators nicht unproblematisch und historisch belastet. Von 1690 bis 1921 war die heutige Mongolei eine Art Kolonie Chinas. Das Autonome Gebiet Innere Mongolei als Teil der Volksrepublik hat eine etwas andere Geschichte, da sich dessen Fürsten um 1630 den mandschurischen Eroberern Chinas freiwillig angeschlossen hatten. Von der Volksrepublik wird sehr misstrauisch und repressiv auf jede »panmongolische« Bewegung im Inland wie auch in der Mongolei geachtet. Die knapp 70 Jahre der Mitgliedschaft der Volksrepublik Mongolei im sowjetischen Einflussbereich (1921–1990) wird heute von einer Mehrheit vor allem als eine Zeit der Ausplünderung und Unterdrückung angesehen, auch wenn vor allem bei Älteren der Beitrag der Sowjetunion zur Erringung und Verteidigung der staatlichen Unabhängigkeit anerkannt wird.

Abhängig von Nachbarn

Die Erhaltung guter Beziehungen zu beiden Nachbarn gehört zur Staatsdoktrin der Mongolei und jeder ihrer Regierungen. Die Abhängigkeit von ihnen zeigt sich schon bei einigen wenigen ökonomischen Zahlen: Etwa 30 Prozent des Imports kommen aus Russland (darunter nahezu 100 Prozent allen Treibstoffs) und 34 Prozent aus China. Umgekehrt gehen 84 Prozent des Exports in die Volksrepublik, gefolgt von der Schweiz, die Gold im Wert von einer Milliarde Schweizer Franken jährlich importiert (knapp neun Prozent des Exports). Dieser große Anteil liegt an der Dominanz der schweizerischen Goldraffinerien mit 70 Prozent Anteil an der Weltproduktion. Produkte des Bergbaus machen 90 Prozent der Exporte aus, etwas mehr als 50 Prozent davon sind Kohle, für deren Export in die VR China extra eine Bahnlinie gebaut wurde.

Die Mongolei exportiert als weltweit drittgrößter Produzent auch erhebliche Mengen an Fluorit für die Stahl- und Glasindustrie (ca. 100.000 Tonnen pro Jahr). Weitere 30 Prozent sind metallurgische Erze. Der noch vor Jahren prognostizierte Boom anderer Rohstoffe (Metalle der seltenen Erden, Lithium, Wolfram, Nickel und andere Nichteisenmetalle) bleibt aus, die Mengen sind weit geringer als damals vorhergesagt. Der vor allem von Frankreich betriebene Uranabbau ist bis heute nicht zur Produktionsreife gediehen.

Zum Erhalt gutnachbarlicher Beziehungen gehört auch eine klassische Realpolitik. So hat die Mongolei sich der Stimme in der UN-Vollversammlung in bezug auf den Ukraine-Krieg und die Verurteilung Russlands enthalten. Gegen diese Haltung der Regierung gab es einige Proteste, die aber mittlerweile eher eingeschlafen sind. Russische Staatsbürger, die sich in die Mongolei abgesetzt haben, um dem Kriegsdienst zu entgehen, werden gleichwohl nicht ausgewiesen. Zu dieser Realpolitik bemerkt die im Land sehr aktive Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU lapidar: »Nicht zu Unrecht vermuten mongolische Politikerinnen und Politiker, dass die westliche Unterstützung im Falle eines russischen oder chinesischen Einmarschs in der Mongolei nicht über das Niveau von Protestnoten hinausgehen könne und würde.«

Der »dritte Nachbar«

Seit der Wende von der sozialistischen Volksrepublik (1921–1990) zum Kapitalismus versucht die Mongolei, mit einem Konzept des »dritten Nachbarn« dieser prekären geographischen Lage ein politisches Gegengewicht entgegenzusetzen. Damit gemeint sind vor allem die USA, Südkorea, Japan und die Europäische Union. Und deren Interesse an Einfluss in der Mongolei wächst mit der Zunahme der Spannungen in dieser Region.

Auf politischer Ebene ist Ulan-Bator dabei vielfältig engagiert: Die Mongolei trat der UNO im Jahr 1961 bei. Seit der Wende 1990 beteiligt sich das Land aktiv an mehreren UN-Friedenseinsätzen. Die Mongolei ist auch außerhalb der UNO auf internationaler Ebene aktiv. So hat sie den Vorsitz im UN-geförderten »International Thinktank for Landlocked Developing Countries (ITTLLDC)« mit Sitz in Ulan-Bator, dem eine Reihe von Ländern ohne Zugang zum offenen Meer angehören. Die Infrastruktur für die Konferenz COP 17 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Wüstenbildung wird für das Jahr 2026 im »Khushig Valley« beim neuem internationalem Flughafen etwa 35 Kilometer außerhalb der Hauptstadt gebaut – eine große Aufgabe. Japan ist über die Japanese International Cooperation Agency an dem Projekt beteiligt.

Das »sowohl als auch« der Außenpolitik wird auch an Folgendem deutlich: Im Jahr 2004 wurde die Mongolei als einer der ersten Staaten mit Beobachterstatus in die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) aufgenommen. 2012 wurde die Mongolei der 57. Teilnehmerstaat der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Hintergrund: Zeitenwende in Nordostasien

Fast wäre die Mongolei aus dem Fokus deutscher Politik verschwunden: Im Jahr 2020 hatte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen des Restrukturierungsprojekts »BMZ 2030« beschlossen, die bilaterale Zusammenarbeit mit der Mongolei zu beenden. Die Ankündigungen glänzender Zusammenarbeit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch im Jahr 2011 hatten sich in Luft aufgelöst. Doch die »Zeitenwende« hat auch hier eine Neuorientierung ausgelöst. So heißt es auf der Webseite des Ministeriums: »Angesichts der veränderten weltpolitischen Situation und der gestiegenen Herausforderungen der Mongolei wurde sie im Herbst 2022 wieder aufgenommen.«

So fördert Deutschland u. a. die Deutsch-Mongolische Hochschule für Rohstoffe und Technologie, verschiedene ostdeutsche Städte sind aus alter DDR-Tradition mit dem Land verbunden, das Fraunhofer-Institut hat Projekte der Wasserinfrastruktur gefördert. Die GIZ ist mit über 100 Personen vertreten. Im Bergbau sind deutsche Firmen als Zulieferer für Chemikalien (BASF) oder Bergwerkstechnik engagiert.

Seither ist das Land Ziel deutscher Minister: 2023 reiste Außenministerin Annalena Baerbock auf Einladung der mongolischen Außenministerin Battsetseg Batmunkh zu einem internationalen Treffen von 11 Chefdiplomatinnen. Im Frühjahr 2024 weilte Bundespräsident Steinmeier aus Anlass der 50jährigen diplomatischen Beziehungen in der Mongolei. Dass die DDR schon 1950 diplomatische Beziehungen aufgenommen hatte, fällt hier dem Ministerium für historische Wahrheiten (George Orwell, 1984) zum Opfer. Steinmeier unterzeichnete ein Papier zur »strategischen Partnerschaft«. Zu dieser »strategischen Zusammenarbeit« gehört auch die intensivierte Zusammenarbeit der Bundeswehr mit den mongolischen Streitkräften.

Im Februar 2024 war Verkehrsminister Wissing zum Abschluss eines Abkommens über den grenzüberschreitenden Verkehr im Land. Gleichzeitig kündigte er Unterstützung für Planung und Bau einer neuen mongolischen Hauptstadt für 500.000 Einwohner an. Schon das mit führender deutsche Beteiligung 2014 in den Sand der mongolischen Steppe gesetzte Projekt Maidar City südlich von Ulan-Bator für 300.000 Einwohner, das 2024 fertiggestellt sein sollte, stellt Stuttgart 21 und den BER in den Schatten: Hier sollen die ersten 80.000 Bewohner im Jahr 2030 einziehen. »It’ll be under construction until the sun rises from the west.« So ein Kommentar im Internet.

Oder: Unterstützung für jedes noch so große Wolkenkuckucksheim wird fließen, solange der Westen ein Interesse an diesem Vorposten hat. Aus solchen Vorposten können auch schon mal hinterwäldlerische Regionen werden. (es)

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  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland (25. Juli 2024 um 12:56 Uhr)
    Da die jetzt zur Russischen Föderation gehörende Republik Burjatien historisch, sprachlich, auf dem Gebiet der Religion und allgemein kulturell sehr mit der Mongolei verbunden ist, interessiert uns hier in Ulan-Ude natürlich alles, was in Ulan-Bator geschieht, ganz besonders. Im vergangenen Jahr besuchten meine Frau und ich bei dem nun wegen der Sanktionen obligatorischen Umweg bei einer Reise nach Deutschland auch die Mongolei. Bei Gesprächen mit Menschen auf der Straße und Informationen, die uns ein dort lebender, politisch sehr aktiver mongolischer Freund gab, der auch viele Jahre in der Ukraine und Russland gearbeitet hatte, ergab sich da ein etwas anderes Stimmungsbild, als in diesem Artikel beschrieben. »Seit der Wende von der sozialistischen Volksrepublik (1921–1990) zum Kapitalismus versucht die Mongolei, mit einem Konzept des «dritten Nachbarn» dieser prekären geographischen Lage ein politisches Gegengewicht entgegenzusetzen. Damit gemeint sind vor allem die USA, Südkorea, Japan und die Europäische Union. Und deren Interesse an Einfluss in der Mongolei wächst mit der Zunahme der Spannungen in dieser Region.« Nein, eben diese genannten Länder schüren wie im Fall Taiwan die Spannungen. Die Lage der Mongolei ist keineswegs »prekär«, sondern wird von westlicher Propaganda so beschrieben. Weder China noch Russland bedrohen die Mongolei oder schaden ihr. Dies kann man perspektivisch von der NATO nicht erwarten, mit der sie einen Kooperationsvertrag (!) geschlossen hat. Einige in der Ukraine geschlossene ausgelagerte Biolabore (der in den USA verbotenen Art) wurden bereits in die Mongolei verlegt. Beide doch sehr nennenswerte Fakten verschweigt der Artikel. Das alles will nicht »die Mongolei«, sondern die Regierung der Mongolei, die sich mit dieser Anbändelei mit der NATO im Gegensatz zu überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung setzt.
    Ich bin viel in der Welt herumgekommen, habe aber noch nirgendwo anders durchgehend so russlandfreundliche Menschen getroffen wie unter den Mongolen, und zwar auch in der Ukraine-Frage. Wir trafen dort niemanden, der nicht hocherfreut auf die ersten russischen Worte reagiert hätte, wenngleich die Jugend dann doch eher Englisch spricht. Gerade nach dem Deutschland-Besuch zuvor war diese Haltung zu Russland besonders angenehm. Die Mongolei verdankt der UdSSR ihre Staatlichkeit, ihre Schriftsprache, den Bau von riesigen Wohnvierteln, Theatern, Schulen, Universität, weil da 1920 außer Steppe eben nicht sehr viel mehr war. Das anerkennen nach Aussage unseres Bekannten nicht nur einige Ältere, sondern 95 % der Bevölkerung, die keineswegs die guten Kontakte zu Russland durch Kontakte zur NATO ersetzt haben möchte. Sie halten ihre Regierung von den USA für gekauft. Das ist keine Realpolitik, sondern die gleiche Taktik von NATO und EU, der sich Georgien jetzt Gott sei Dank unter Drohungen aus dem Westen entziehen will, weil die Ukraine ihr bereits zum Opfer fiel.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christoph H. (23. Juli 2024 um 21:35 Uhr)
    Informativ und gut geschrieben. Mehr davon!

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