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Aus: Ausgabe vom 23.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Begriffskunde

Bei Kindern ein Ehrentitel: Strolch

Von Marc Hieronimus
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Klassengesellschaft: Die feine Cockerspanieldame Susi und der Mischlingsstreuner Strolch

Im jW-Kreuzworträtsel wurde ein »unternehmungslustiger, wilder Junge« gesucht, der Strolch war die unerwartete Lösung. Laut dem »Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache« (DWDS) ist dieser ein »müßig herumlungernder, verwahrloster, kein Vertrauen erweckender, oft gewalttätiger Mann, Lump, Landstreicher«. Das denken die sich nicht aus, sondern ziehen es aus »Qualitätsmedien« wie Welt und SZ oder dem Benimmbuch einer Helene Haluschka von 1938 (!): »Die demokratische Einstellung des Volkes gebietet größte Höflichkeit selbst mit einem Strolch.« Der ältere und umfassendere digitale Grimm verweist dagegen auf Anna Seghers’ Buch »Die Toten bleiben jung«: »Die Strolche, die den Vertrag von Versailles gemacht hatten, die hockten jetzt obenauf.«

Bei Gottfried Keller wird mal ein reicher, vermutlich promiskuitiver Spekulant, mal ein treuloser Freund als Strolch bezeichnet. Der bildungsferne BRD-Sozialisierte denkt zuerst an den »Sittenstrolch«, welcher freilich zweitgedanklich die Möglichkeit eines anderen als bloß anstandswidrigen Strolchtums bereits in sich trägt. Plötzlich werden TV-Erinnerungen wach und strecken sich: Die feine Cockerspanieldame Susi und Mischlingsstreuner Strolch heißen eigentlich Lady and the Tramp. Lebehund Strolch hat so manche Liebschaft mit Artgenossinnen (Bitches), ist tapfer und loyal, wird aber von Susis spießigen und ungerechten Haltern wegen seiner Herkunft – seiner Klasse! – unbegangener Verbrechen bezichtigt, eingesperrt und beinah getötet.

Der Disney-Klassiker von 1955 wirkt zunächst wie aus der Zeit gefallen: Ein (auch sexuell) rumstrolchender Lump hat einen guten Kern? Am Ende kommt alles in Ordnung, denn der Tramp lässt seinen freiheitlichen Lebensentwurf hinter sich und fügt sich ins Kleinbürgerglück, ist also gar kein, heißt nur Strolch. Aber im ZDF liefen doch auch »Die kleinen Strolche« aus den 1920er, 30er Jahren, lauter unternehmungslustige, wilde Jungs (und eine Strolchin), die statt wie heute Geige, Mandarin und Nachhilfe Freiheit, Zeit und Flausen haben, Strolche eben. Bei Kindern ist das noch ein Ehrentitel.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (22. Juli 2024 um 22:27 Uhr)
    Auch Mark Twains »Tom Sawyer« war und ist eine nach wie vor erfolgreiche Erzählung eines jugendlichen »Strolches«. Köstlich.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (22. Juli 2024 um 22:12 Uhr)
    An alle Schwiegertöchter: Mandarin hat das Ballett ersetzt!

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