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Aus: Ausgabe vom 23.07.2024, Seite 12 / Thema
Islamfeindlichkeit

Ein Mord und seine Nutznießer

Rechte Hetze, staatlich flankiert. Der Mannheimer Messerangriff und seine Folgen
Von Michael Kohler
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Wenn rechte Parolen zur Staatsräson werden. Pro-AfD-Demonstranten berufen sich auf Äußerungen des Kanzlers (Mannheim, 7.6.2024)

Durch eine Kugel aus einer Polizeipistole wird am 31. Mai der Angriff des 25jährigen Afghanen Sulaiman A. auf eine Kundgebung rechtsextremer Islamfeinde bereits nach 25 Sekunden gestoppt. Zuvor war es dem Angreifer aber gelungen, sechs Personen durch Messerstiche schwer zu verletzen, unter ihnen den 29jährigen Polizeihauptkommissar Rouven Laur, der zwei Tage später seinen Verletzungen erliegt.

Von der veranstaltenden sogenannten Bürgerbewegung Pax Europa (BPE) und ihrem Protagonisten Michael Stürzenberger ist seit langem die Angewohnheit bekannt, provozierende islamfeindliche Kundgebungen in migrantisch geprägten Vierteln zu veranstalten, die per Livestream ins Netz übertragen werden. Mit Hilfe rhetorischer Tricks gelingt es, Passanten, die ihren Unmut äußern, lächerlich zu machen und damit den rassistischen Überlegenheitswahn der Follower zu bedienen. Dieses perfide Vorgehen sorgte am 31. Mai dafür, dass der Anschlag live im Netz übertragen wurde. Die Aufnahmen warfen Fragen auf, die immer noch völlig ungeklärt sind, obwohl ihre Beantwortung für eine Einordnung und Bewertung der Ereignisse unerlässlich wäre.

Sekunden nachdem der Angreifer seine Aktion begonnen und Stürzenberger mit einigen Stichen verletzt hatte, wird er von einem Passanten niedergerungen und so auf dem Boden fixiert, dass er das Messer nicht mehr einsetzen kann. Später wird bekannt, dass es sich bei diesem Passanten um einen jungen Mann irakischer Herkunft handelt. Auf ihn stürzen sich jedoch zwei Männer, schlagen ihn und befreien den auf dem Boden fixierten Attentäter. Einer der beiden ist durch seine blaue Bekleidung als BPE-Ordner erkennbar, die andere Person ist trotz des sommerlichen Wetters völlig vermummt durch eine Schirmmütze, die zugezogene Kapuze eines Anoraks in Tarnfleck, eine Atemschutzmaske und dicke Handschuhe. In diesem Moment greift der Polizist ein, stürzt sich auf den BPE-Ordner und bringt ihn zu Boden. Sulaiman A. kann jetzt dem Iraker drei Stiche zufügen und weitere Personen verletzen, dann stürzt er sich auf den mit dem Ordner ringenden Polizisten und sticht ihm von hinten in den Rücken und in den Hals, bevor er schließlich durch den Schuss eines Polizisten zu Boden gebracht wird. Offen ist: Wer waren die beiden Personen, die den Attentäter befreiten, wer war insbesondere die vermummte Person, und welche Motive lagen ihrem Handeln zugrunde? Und warum konnten die anwesenden Polizisten nicht verhindern, dass der befreite Attentäter sich erhob und seinen Angriff fortführte?

Rasche Reaktionen

Mannheims antifaschistische Bewegung reagiert auf die brutale Tat rasch und energisch. Noch am selben Tag veröffentlicht die Redaktion von antifa-info.net, einer Plattform der antifaschistischen Bewegung in Süddeutschland, eine Analyse unter der Überschrift »Messerattacke auf rassistischen Hetzer«.¹ Kritisiert wird zunächst die Selbstbezeichnung des BPE-Vorsitzenden Michael Stürzenberger als »Islamkritiker«. Zu diesem Herrn und seinen politischen Aktivitäten gibt es einen langen Wikipedia-Eintrag. Wer sich dazu überwindet, ihn zu lesen, wird zu dem Schluss kommen, dass wohl keine andere Person im Lande derart hartnäckig und unverfroren rechtsextrem-islamfeindliche Positionen verkündet. Sogar der bayerische Verfassungsschutz führte ihn in dem Kapitel »Verfassungsschutzrelevente Islamfeindlichkeit« auf. In seiner langen politischen Laufbahn, die er als Pressesprecher der Münchner CSU begann, wurde Stürzenberger denn auch mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilt, weil er beispielsweise den Islam an sich mit Terrorismus gleichsetzte und Muslime, die ihrem Glauben nicht abschwören, zur Ausreise zwingen wollte. Er beabsichtigt, die Gültigkeit rechtsstaatlicher Prinzipien für Muslime außer Kraft zu setzen und sie in Umerziehungslager zu stecken, falls sie sich nicht vom »politischen Islam« distanzieren. Häufig pflegt er Umgang mit bekannten Neonazis und NPD-Funktionären, ist »Pegida«-Aktivist der ersten Stunde und bestreitet im Netz gemeinsame Veranstaltungen mit Martin Sellner von der völkischen »Identitären Bewegung«, der jüngst als »Remigrations«-Experte in Erscheinung trat, in Verbindung stand mit dem extrem rechten Massenmörder und Christchurch-Attentäter Brenton Tarrant und dem die Einreise in die USA, nach Großbritannien und Deutschland untersagt ist.

Braunes Süppchen

Ebenfalls rasch reagierte die AfD-Jugendorganisation »Junge Alternative« und meldete für den Sonntag nach dem Anschlag eine Kundgebung unter dem Motto »Sofortige Remigration islamischer Straftäter« an. Trotz bundesweiter Mobilisierung auch durch die Mutterpartei, zwei vor Ort unterstützende Bundestagsabgeordnete und das inzwischen verbotene, mit einem Medienteam anwesende, extrem rechte Magazin Compact nahmen nur etwa 150 Personen teil. Die immer wieder in den Vordergrund gestellte Position: »Mit Remigration wäre das nicht passiert.« »Remigration« wird also, anders als noch bei der Anmeldung, nicht nur für »islamische Straftäter«, sondern gleich zur Prävention von Straftaten gefordert. Dazu passend finden sich Plakate mit der Parole: »Der Bevölkerungsaustausch findet längst statt. Remigration ist die Lösung.« Bekanntlich hatte der Angreifer einen legalen Aufenthaltstitel, war polizeilich noch in keiner Weise in Erscheinung getreten und galt als »gut integriert«.

Nach Polizeiangaben standen den etwa 150 Jungnazis 800 bis 1.000 Demonstranten gegenüber. Sie bildeten eine Menschenkette unter dem Motto »Zusammenhalt gegen Gewalt, Hass und Hetze anlässlich der Tat vom 31.5.« Zwei Stadträte der Grünen und einer der FDP hatten diese Aktion kurzfristig organisiert.

Am Montag, Tag drei nach dem Anschlag, versammeln sich nach Polizeiangaben 8.000 Menschen auf dem Marktplatz zu einer Gedenkstunde. Aufgerufen hatten Oberbürgermeister Christian Specht (CDU), die Fraktionen des Gemeinderats und die Religionsgemeinschaften. Specht und Landesinnenminister Thomas Strobel (CDU) sprechen, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ist anwesend. Vertreter der christlichen, muslimischen, jüdischen und alevitischen Gemeinden veranstalten gemeinsam ein »interreligiöses Gebet«. Blumen werden abgelegt, und Kolleginnen und Kollegen des getöteten Polizisten defilieren an dem Gedenkort vorbei.

Die linke 14tägig erscheinende Zeitschrift Kommunalinfo Mannheim, die die Geschehnisse dieser Tage in ihrer Netzausgabe journalistisch eng begleitet hat, zieht differenziert Bilanz:² Zwar habe die Veranstaltung – ein »Zusammenstehen mit Seltenheitswert« – den Anwesenden die Gelegenheit geboten, ihre Trauer und Anteilnahme auszudrücken sowie die Überzeugung, dass es in Mannheim möglich ist, auch mit unterschiedlichen Religionen und Nationalitäten in Frieden zusammenzuleben. Jedoch sei an der Rede von Oberbürgermeister Specht zu kritisieren, dass er in bezug auf Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nur über Islamismus und Aufenthaltstitel sprach. Er ignoriere vollkommen die Gefährdung durch völkische und rassistische Ideologen, die auf dem Marktplatz ihre Sicht der Dinge zum besten geben durften. »Wenn diese von ›Wir‹ sprechen, so ist dies ein aussonderndes Wir, völkisch, ethnisch sortierend, rassistisch. Specht übernimmt für die Bürgerbewegung Pax Europa die landläufige verharmlosende Bezeichnung ›islamkritisch‹. Richtig muss es heißen: islamfeindlich. Die Gefährder sind nicht nur solche, die ggf. abgeschoben werden könnten, sondern auch solche, die seit jeher in unserem Land leben (…). Es gibt die islamistischen Hassprediger und es gibt die rassistischen Hetzer*innen, und beide Sorten finden ihre ausführenden Täter*innen. Auf dem Marktplatz ist Blut geflossen von der Hand eines mutmaßlich islamistischen Täters. Das betrauern wir. Die Aufmerksamkeit und der politische Kampf muss sich jedoch auf und gegen beide Gefährderarten richten. Das vermissen wir.«

Am Freitag, Tag sieben nach dem Anschlag und zwei Tage vor der EU-Wahl, erleben die Mannheimer mehrere Veranstaltungen. Am Tatort findet um 11.34 Uhr eine Schweigeminute mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Ministerpräsident Winfried Kretschmann statt. Zugleich begehen über 500 Polizisten schweigend einen Gedenkakt im Ehrenhof des Mannheimer Schlosses. Die AfD beabsichtigt, um 18 Uhr eine Veranstaltung auf dem Marktplatz durchzuführen. Ihre Landesverbände Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen mobilisieren, die Veranstaltung wird zum Höhepunkt und zur Abschlussveranstaltung des Wahlkampfes erklärt. Nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim muss sie jedoch auf den nahegelegenen Paradeplatz verlegt werden, den Marktplatz hat die Stadt vorübergehend zur »Gedenk- und Trauerstätte« deklariert.

Der DGB und das Bündnis »Mannheim gegen rechts« empfinden diese Veranstaltung als Affront, als schamlose Instrumentalisierung des Ereignisses. Sie rufen gemeinsam zu einer Kundgebung auf dem Alten Messplatz auf und zu einer anschließenden Demonstration zum Paradeplatz. Die Stadtverwaltung zeichnet in Presseerklärungen das Bild bürgerkriegsähnlicher Zustände, erklärt beispielsweise, Krankenhäuser in Mannheim und Umgebung seien informiert worden, damit sie entsprechende Vorbereitungen treffen können. Auf der Kundgebung erklärt der DGB-Landesvorsitzende Kai Burmeister, Gewerkschaften seien die natürlichen Gegner von Faschisten und Rechtspopulisten. Denn es würden international da, wo Rechtspopulisten an der Regierung sind, demokratische Grundrechte wie das Demonstrationsrecht oder das Streikrecht eingeschränkt oder abgeschafft. Getrennt durch starke Polizeiketten und lückenlose Absperrgitter treffen schließlich nach Polizeiangaben 3.300 Antifaschisten in Hörweite auf 700 AfDler, zu denen sich auch die BPE mit einem Transparent gesellt. Die Losung der Veranstaltung lautet: »Messermänner und Islamisten raus«. Ein Teilnehmer trägt ein Plakat mit dem Spiegel-Cover vom Oktober 2023, auf DIN A1 vergrößert. Darauf Olaf Scholz mit seiner berüchtigten Rechtsüberholerparole: »Wir müssen endlich in großem Stil abschieben!« Gleichwohl ist auf der von Kommunalinfo Mannheim erstellten Bildergalerie³ deutlich zu sehen, dass sich die extrem Rechten angesichts der zahlenmäßigen und akustischen Übermacht wenig wohl fühlen. Die in Aussicht gestellten bürgerkriegsähnlichen Zustände treten nicht ein. Das Kommunalinfo kommentiert trocken: »Nach Polizeiangaben gab es keine Zwischenfälle. Der einzige Zwischenfall war die AfD.«

Migrantische Bevölkerung in Gefahr

Die Zahlen zeigen leider seit langem, dass rechte Gefährder eine enorme und auch wachsende Gefahr für Leib und Leben vieler Menschen sind. So gibt es seit drei Jahren wieder stark steigende Zahlen für Angriffe auf Geflüchtete und Geflüchtetenunterkünfte. Im Schnitt wird in Deutschland jeden zweiten Tag eine Geflüchtetenunterkunft angegriffen. Die Zahl stieg von 70 im Jahr 2021 auf 171 ein Jahr später und nochmals auf 180 im Jahr 2023. Dazu kommen Angriffe auf Geflüchtete außerhalb ihrer Unterkünfte. 2021 waren es 1.184, 2022 dann 1.420, um 2023 mit 2.378 Angriffen fast doppelt so hoch zu liegen. Da bei weitem nicht alle Angriffe außerhalb von Unterkünften gemeldet werden, besteht eine hohe Dunkelziffer.

Es steigt aber die Gefährdung nicht nur für Geflüchtete, sondern für die gesamte migrantische Bevölkerung. Deren Anteil beträgt in Mannheim 48,5 Prozent. In absoluten Zahlen sprechen wir von über 158.000 Mannheimern, von denen mehr als 93.000 eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen. Sechs Wochen nach dem Angriff – auf dem Marktplatz liegen noch Blumen zum Gedenken – wird bekannt, dass nach dem Messerangriff eine gewachsene Gefährdung in dem stark migrantisch geprägten Viertel deutlich spürbar geworden ist. In Geschäften rund um den Marktplatz gehen die Umsätze zurück, und es kommt zu Anfeindungen. Ein Geschäftsinhaber berichtet der Zeitung, vor allem deutsche Kunden und Menschen von außerhalb würden nicht mehr kommen. Bei ihm würde fast die Hälfte der Kunden wegbleiben. Thorsten Riehle (SPD), der Mannheimer Bürgermeister für Wirtschaft, Arbeit, Soziales und Kultur sagt: »Es gibt die Befürchtung, dass um den Marktplatz herum das Thema Zusammenhalt schwieriger wird.« Er nahm deshalb Gespräche auf mit Gewerbetreibenden, Vorständen von Moschee- und Kulturvereinen und Vertretern der Gewerkschaft der Polizei. Nach der Sommerpause soll ein großer Tisch aufgebaut werden, wo die Menschen zum Essen und zum Gespräch eingeladen werden sollen.

Es lässt sich anhand der Mannheimer Ereignisse abermals das beunruhigende Ausmaß der Gefahr erkennen, die bei einer Regierungsbeteiligung der AfD bestünde. Der Journalist Arne Semsrott hat sie beschrieben in seinem gerade im Droemer-Verlag erschienenen Buch »Machtübernahme: Was passiert, wenn Rechtsextremisten regieren. Eine Anleitung zum Widerstand«. Bedroht wären eben nicht nur die straffälligen, sondern Millionen Ausländer und alle, die sie unterstützen. In Gefahr wären alle, die sich in einem wie auch immer gerichteten zivilgesellschaftlichen Widerstand engagieren. Die Unabhängigkeit der Justiz wäre gefährdet, extrem rechte Netzwerke könnten sich in den sogenannten Sicherheitsbehörden weiter ausbreiten. Die 2020 gegründete Kampagne »Entnazifizierung jetzt« veröffentlichte auf ihrer Homepage fast 900 Skandale mit Nazis und Rassisten bei den deutschen »Sicherheitsbehörden«. Selbst überrascht von dieser hohen Zahl, fasst sie das Ergebnis ihrer Recherchen so zusammen: »Das Problem ist massiv, flächendeckend und betrifft Polizei, Justiz, Geheimdienste und Bundeswehr in bedrohlichem Ausmaß.« Ferner wäre eine Entmachtung und Dezimierung der Gewerkschaften genauso zu erwarten wie der Verlust der Unabhängigkeit der Medien, gesichert wäre eine gewaltige Umverteilung aller gesellschaftlicher Ressourcen von unten nach oben.

Abschiebedebatte

Vor ziemlich genau fünfzehn Jahren, im August 2009, stellte der Dresdner Rechtsanwalt, Experte für das NPD-Verbotsverfahren und Grünen-Politiker Johannes Lichdi Strafanzeige gegen die NPD. Es ging um zwei Plakate mit den Aufschriften »Kriminelle Ausländer raus« und »Heimreise statt Einreise«. Sie begründeten nach seiner Auffassung den Verdacht der Kollektivbeleidigung beziehungsweise der Volksverhetzung. Am 1. Juli 2009 war in Dresden die ägyptische Handballnationalspielerin und Pharmazeutin Marwa El-Sherbini im Gerichtssaal erstochen worden, das Gericht stellte später Fremdenhass als Motiv fest. Lichdi betonte, die rassistischen Parolen seien gerade nach diesem Mord unerträglich.

Heute sind wir Zeugen einer Entwicklung, in der die einstmals alle Demokraten provozierenden NPD-Parolen Schritt für Schritt zur Staatsräson zu avancieren scheinen. Im Schulterschluss mit Nancy Faeser, Robert Habeck, Markus Söder, Winfried Kretschmann und vielen anderen fordert Kanzler Scholz in Reaktion auf das Mannheimer Attentat, »Schwerstkriminelle« abzuschieben, »auch wenn sie aus Afghanistan oder Syrien stammen«.

Sie alle stellen sich mit dieser Forderung schon deshalb außerhalb des Rechts, weil das deutsche Strafrecht verlangt, dass eine in Deutschland begangene Straftat unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Täters auch in Deutschland verfolgt wird. Es stellt sich zudem die Frage: Was sind »Schwerstkriminelle«? Im deutschen Strafgesetzbuch sind Verbrechen als diejenigen Delikte definiert, die mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht sind. Obwohl sie umgangssprachlich und auch von der Polizei verwendet werden, sind die Begriffe Schwerverbrechen oder gar Schwerstverbrechen juristisch nicht bestimmt. Als Jurist weiß Olaf Scholz das. Als Politiker weiß er auch, dass die Verwendung unbestimmter Begriffe bei juristischen Sachverhalten der Willkür Tür und Tor öffnet und deshalb mit dem Prinzip des Rechtsstaates nicht vereinbar ist.

Dazu kommt, dass die vollmundig angekündigten Abschiebungen nicht realisierbar sind, weil Deutschland weder zu Syrien noch zu Afghanistan diplomatische Beziehungen unterhält und in beiden Ländern nach wie vor eine miserable Menschenrechtslage besteht. Der Ausweg aus dem Dilemma wird nun darin gesehen, Nachbarländern der beiden Staaten Geld zu geben, damit sie die Personen, die Deutschland abschieben will, aufnehmen und irgendwie weiterreichen. Verhandelt wird wohl vor allem mit Usbekistan, Pakistan und dem Libanon. Aktuell werden die libanesischen Behörden von Amnesty International dafür kritisiert, dass sie syrische Flüchtlinge nach Syrien abschieben, obwohl diesen dort schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Die Menschenrechtslage ist im Libanon ebenfalls schlecht, außerdem ist das Land Kriegsschauplatz und erlebt derzeit eine schwere Wirtschaftskrise. Pakistan kaserniert seit November 2023 zwei Millionen afghanische Flüchtlinge, um sie nach Afghanistan abzuschieben. 600.000 bis 800.000 von ihnen waren nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 geflüchtet. Die Menschenrechtslage gilt auch in Pakistan und Usbekistan als katastrophal.

Abgesehen davon, dass die zirkulierenden Abschiebepläne in ethischer Hinsicht der untersten Schublade entnommen sind, werden sie, wenn überhaupt, nur für eine kleine Zahl von Menschen und nicht »in großem Stil« umzusetzen sein. Das aber wird voraussehbar Wasser auf die Mühlen der »Wutbürger« sein: ein staatliches Förderprogramm der extremen Rechten. Der verblendete und verhetzte Mob wird noch eher zu Gewalt neigen.

Die Abschiebungen sollen auch dazu dienen, sogenannte islamistische Gefährder loszuwerden. Die können nur ausgewiesen werden, wenn eine konkrete Gefahr wie zum Beispiel die konkrete Planung eines Anschlags nachgewiesen werden kann. Gefährder sind Menschen, bei denen die Annahme besteht, dass sie erhebliche Straftaten begehen könnten. Bei ihnen besteht nach Ansicht der Polizei eine abstrakte Gefahr. Zur Zeit wird ihre Anzahl auf 505 geschätzt. Sie sind also weder Kriminelle noch Schwer- oder gar Schwerstkriminelle, aber irgend jemand in irgendeiner Behörde hat aufgrund irgendwelcher Informationen die Annahme, dass sie es irgendwann mal werden könnten. In einem Rechtsstaat gilt aber das schon im römischen Recht formulierte Prinzip »Nulla poene sine lege«, keine Strafe ohne Gesetz, das bedeutet, dass eine Person nur für eine tatsächlich begangene Handlung, die gegen ein zum Tatzeitpunkt bestehendes Gesetz verstößt, zur Rechenschaft gezogen werden kann. Um ihren präventiven Auftrag erfüllen zu können, müssen die Sicherheitsbehörden mit Begriffen wie denen des Gefährders arbeiten und entsprechende Einordnungen vornehmen, auch wenn diese rein juristisch betrachtet letztendlich willkürlich sind. Rechtsstaatliche Prinzipien werden aber verlassen, sobald aus diesen Einordnungen negative Rechtsfolgen wie beispielsweise eine Abschiebung abgeleitet werden. Um dieses Dilemma zu lösen, soll nun die Befürwortung einer Straftat ausreichen, um abzuschieben. Ein Like an der falschen Stelle auf Facebook oder Instagram könnte dann dafür ausreichen, dass morgens um fünf die Polizei kommt und jemand um sieben ins Flugzeug nach Usbekistan setzt.

Dass, wie gerade anlässlich des Mannheimer Messerangriffs geschehen, jemand seine Freude über einen brutalen Mord ausdrückt und zu weiteren solchen Taten aufruft, ist abscheulich und kann nicht toleriert werden. Das geplante Vorgehen aber ist ebenfalls verwerflich, schon weil es nicht verhältnismäßig ist. Es wird voraussehbar auch keine Anschläge verhindern, denn wer einen islamistischen Anschlag plant, wird ihn wohl nicht vorher auf Facebook ankündigen.

Anmerkungen

1 Messerattacke auf rassistischen Hetzer – Antifa-Info.net

2 »Mannheim hält zusammen!« – Große Gedenkstunde auf dem Marktplatz – Kommunalinfo Mannheim (kommunalinfo-mannheim.de)

3 Tausende demonstrierten gegen die Instrumentalisierung des Messeranschlags durch die AfD (mit Bildergalerie) – Kommunalinfo Mannheim (kommunalinfo-mannheim.de)

Michael Kohler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 5. April 2024 über Sinn und Unsinn von Tierwohllabel und Tierwohl-Cent.

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