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Aus: Ausgabe vom 24.07.2024, Seite 4 / Inland
RKI-Files

Coronapolitik ohne Grundlage?

RKI-Protokolle ungeschwärzt veröffentlicht. Behauptung von »Pandemie der Ungeimpften« fachlich »nicht korrekt«
Von Karim Natour
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In Erklärungsnot: Ex-RKI-Präsident Lothar Wieler (l.) und Exgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in Berlin (8.9.2021)

Die Coronapandemie brachte nicht nur Todesfälle und Langzeiterkrankte. Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit wurden unter Verweis auf die Verbreitung des Virus umfangreich eingeschränkt – ohne viel Gegenwind. Kritiker des autoritären staatlichen Umgangs mit der Pandemie wurden auf breiter Front als Staatsfeinde (»Schwurbler« und »Covidioten«) diffamiert – ein Reflex, der mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine 2022 mühelos auf Gegner von Krieg und Waffenlieferungen übertragen werden konnte.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) beriet zur Zeit der Pandemie als Teil des eigens eingerichteten Krisenstabes die Regierung hinsichtlich der Eindämmung des Virus. Als die RKI-Sitzungsprotokolle des Gremiums im März veröffentlicht wurden, stellten sich Zweifel ein, ob die verordneten Maßnahmen stets auf wissenschaftlichen Erwägungen gründeten. Das RKI hatte zum Beispiel »keine Evidenz« für den Nutzen von FFP2-Masken »außerhalb des Arbeitsschutzes« feststellen können. Trotzdem wurde eine Maskenpflicht verordnet. Die über 1.000 Seiten enthielten allerdings zahlreiche geschwärzte Passagen – angeblich, um die Rechte Dritter zu schützen.

Nun sind die Sitzungsprotokolle von 2020 bis 2023 vollständig ungeschwärzt veröffentlicht worden. Ein ehemaliger Mitarbeiter vom RKI soll sie der Journalistin Aya Velázquez zugespielt haben. Velázquez veröffentlichte den Datensatz am Dienstag morgen auf mehreren Webseiten. Aufgrund des Umfangs von mehreren tausend Seiten dürfte es Wochen dauern, vollständig auszuwerten, inwieweit das RKI seine Empfehlungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen einerseits und von politischem Druck andererseits abhängig machte – zum Beispiel bei der Schließung von Kitas und Schulen oder der Impfung von Kindern. Der gesundheitspolitische Sprecher der BSW-Gruppe im Bundestag, Andrej Hunko, forderte diesbezüglich beim Kurznachrichtendienst X im Namen seiner Partei im Bundestag einen »Untersuchungsausschuss mit vollen Rechten zur Akteneinsicht und zur Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen«.

Ebenfalls bei X erklärte die Journalistin Velázquez, »Zahlreiche politische Entscheidungen, wie etwa 2G, die einrichtungsbezogene und geplante allgemeine Impfpflicht oder die Impfung von Kindern, waren rein politische Entscheidungen, für die das RKI als weisungsgebundene Behörde eine vermeintlich wissenschaftliche Legitimation lieferte.«

Besonders brisant: Das RKI richtete sich im November 2021 unter anderem gegen die Erzählung von der »Pandemie der Ungeimpften«, die medial gegen Personen in Stellung gebracht wurde, die sich nicht impfen lassen wollten. Aus »fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?«, so die Einschätzung des RKI, wie aus den jetzt veröffentlichten Papieren hervorgeht. Der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verwende die Formulierung »bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst«, heißt es weiter, »kann eher nicht korrigiert werden«.

Karl Lauterbach (SPD), seit Dezember 2021 Gesundheitsminister, reagierte bei X auf die Veröffentlichung und erklärte, das »RKI hatte ohnedies vor, mit meiner Zustimmung, die RKI-Files des Coronakrisenstabs zu veröffentlichen. (…) Zu verbergen gibt es trotzdem nichts.« Lauterbach hatte im März 2024 versichert, die Protokolle entschwärzt veröffentlichen zu wollen. Das Verwaltungsgericht Berlin hatte das Kanzleramt im Mai verpflichtet, die Protokolle offenzulegen.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christel H. aus Aschersleben (24. Juli 2024 um 12:20 Uhr)
    Bin ich froh, daß Whistleblower nicht aussterben!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Stephan K. aus Neumarkt i.d.OPf. (24. Juli 2024 um 10:29 Uhr)
    Schön, dass diese Informationen auch in der JW wiedergegeben werden. Es bedarf auch in linken Organisationen (und Medien) der Aufarbeitung. Schließlich war man »innerlinks« vielfach ein Schwurbler wenn nicht gar ein der Querfront mit Rechten Verdächtiger, wenn Kritik an teils nur durch Glaubenssätze begründeten Maßnahmen, Druck, Ausgrenzung, Zwängen und Freiheitsbeschränkungen geäußert wurde. U.a. wurde auch von links das RKI (und Co.) als »die Wissenschaft« präsentiert. Zweifler waren schnell Wissenschaftsfeinde. Wir sehen jetzt, dass im Zentrum von »die Wissenschaft« nicht selten solange geschwurbelt wurde, bis es passt. Das fiel umso leichter, da sich die Beteiligten sicher sein konnten, dass die Medien sich schützend vor alles stellen würden, was als »die Wissenschaft« verkauft wurde. Das nächste Mal - was es hoffentlich so nie wieder gibt - sollten Linke Teil der Kontroverse sein, Teil einer notwendigen Debatte um richtige Wege, diese Debatte einfordern und praktizieren, statt mitzuhelfen sie zu deckeln.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (23. Juli 2024 um 22:27 Uhr)
    Eifrige Akteure, brisante Details: Im Protokoll vom 12. November 2021 ist vermerkt: »RKI sollte sich die Freiheit nehmen, unabhängige Überlegungen anzustellen und dann damit auf das BMG zuzugehen«. Das wäre der normale Weg gewesen: Das RKI berät das Gesundheitsministerium, welches danach seine Entscheidungen trifft. Offensichtlich lief es aber umgekehrt. Die wohl brisanteste Enthüllung: Dem RKI war bewusst, dass die Covid-Impfung eine Corona-Infektion nicht verhindert und schon gar nicht dauerhaft. Das zeigt das Protokoll vom 5. November 2021: »Man sollte dementsprechend sehr vorsichtig mit der Aussage sein, dass Impfungen vor jeglicher (auch asymptomatischer) Infektion schützen. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zur Impfung trifft dies immer weniger zu«. Im gleichen Protokoll des Krisenstabs heißt es: »In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei«. Das RKI widersprach nicht, obwohl die Phrase von vielen Politikern – nicht nur in Deutschland – verbreitet wurde.

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