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Aus: Ausgabe vom 25.07.2024, Seite 2 / Inland
Law and Order Berlin

»Drei Tote innerhalb von sechs Tagen«

Berliner Knäste: Entmenschlichung und staatliche Willkür führen zu Drogenmissbrauch und Suizid. Ein Gespräch mit Mark M.
Interview: Annuschka Eckhardt
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Justizvollzugsanstalt Heidering: Hier starb vergangenen Freitag ein Gefangener

In der vergangenen Woche gab es drei Tote in Justizvollzugsanstalten des Lands Berlin. Was ist passiert?

In der Nacht zum Freitag ist in der JVA Heidering in Teltow-Fläming, die dem Land Berlin untersteht, ein Mann bei einem Brand in seiner Zelle gestorben. Vermutlich hatte er sie selbst in Brand gesteckt – ein Verzweiflungsakt – und ist an der Brandentwicklung erstickt. Ein Hilfeschrei, der in einem tragischen Tod endete. Zwei andere Gefangene sind in der JVA Tegel verstorben, mutmaßlich an der synthetischen Droge Spice, die weder im Urin, Blut noch im Speichel nachzuweisen ist und deshalb häufig konsumiert wird. Der Gebrauch von Betäubungsmitteln ist in Knästen ein Verstoß gegen die Hausordnung, der mit Strafen einhergeht. Und deswegen ist diese verrückte Droge so beliebt, die unzählige Opfer produziert. Drei Tote innerhalb von sechs Tagen, das ist schon Wahnsinn.

Welche strukturellen Ursachen gibt es für diese Toten?

Seitdem die Justizsenatorin Felor Badenberg, CDU, im Amt ist, erleben wir eine Eskalation in den Haftanstalten. In ihrem Kampf gegen sogenannte Clankriminalität geht Badenberg einen besonders restriktiven Weg. Sie verheizt selbst ihre eigenen Beamten – meist simple Naturen, wenn auch mit autoritären Persönlichkeiten – die in dieser aufgeheizten Stimmung auch Opfer von körperlicher Gewalt werden. Erst in der vergangenen Woche ist das Auto eines besonders repressiven Schließers angezündet worden.

Wie äußert sich das im Alltag der Gefangenen?

Badenberg hat beispielsweise die Regel für den offenen Vollzug derart angezogen, dass viele schlicht keine Chance haben und per se als ungeeignet für diese etwas progressivere Art der Gefangenschaft gelten. Der offene Vollzug in Berlin ist in besseren Berliner Zeiten entstanden. Im offenen Vollzug können Gefangene weitestgehend in der Gesellschaft weiterwirken und sollen auch nicht so hohe Kosten produzieren, angesichts der Haushaltsnotlage. Im offenen Vollzug gehen die Gefangenen meistens einem Beschäftigungsverhältnis nach. In der jahrelangen Wartezeit zwischen Urteil und Strafvollstreckung können sie in einem relativ normalen Leben ankommen, Familien gründen oder Partnerschaften führen.

Hunderte dieser Leute hat Barenberg dann einfach für ungeeignet erklärt für den offenen Vollzug, was mit einer Rückverlegung oder einer Verlegung in den geschlossenen Vollzug einherging und den Menschen praktisch jegliche Lebensgrundlage entzogen hat.

Wer wird denn jetzt kategorisch vom offenen Vollzug ausgeschlossen?

Ausgeschlossen sind nun alle, deren Vergehen der sogenannten organisierten Kriminalität zugerechnet werden. Es gibt tatsächlich eine Senatsrichtlinie, die besagt, dass jeder, der der organisierten Kriminalität zuzuordnen ist, besonders gründlich zu überprüfen ist, ob er den Voraussetzungen des offenen Vollzugs genügt. Diese gründliche Überprüfung hat Badenberg einfach umgedeutet als eine grundsätzliche Ungeeignetheit. Oft sind es tatsächlich Nachnamen, an denen die Zuordnung zur organisierten Kriminalität festgemacht wird. Das trifft dann häufig Menschen mit arabischem, türkischen oder kurdischen Familienstammbaum, wo möglicherweise Menschen mit ähnlichem oder gleichlautenden Namen schon mal kriminell aufgefallen sind. Stichwort sogenannte Clankriminalität, eines der Lieblingsthemen der »schwarz-roten«-Regierung.

Warum ist die Suizidrate in Berliner Knästen so hoch?

Es ist ganz klar, das Gefangenschaft körperliche und geistige Schäden verursacht. Oft richtet sich die Gewalt dann eben auch gegen einen selbst oder Menschen betäuben sich mit Substanzen. Hier in Tegel gibt es einen Dealer, der einen Konsumenten immer wieder unter Spice gesetzt und dann vergewaltigt hat. Die Vergewaltigung wurde angezeigt. Der Vergewaltiger ist zwar im Augenblick isoliert, wird aber in wenigen Wochen einfach aus der Haft entlassen. Das Resultat der repressiven Justizpolitik wird insbesondere in der JVA Tegel deutlich: Gefangene werden nicht entsprechend dem gesetzlichen Auftrag »resozialisiert«, sondern im Gegenteil während ihrer Gefangenschaft systematisch entmenschlicht, in ständiger Perspektivlosigkeit gehalten und erfahren staatliche Willkür. Das alles geht einher mit den Erfahrungen von oft extremer physischer und psychischer Gewalt sowie Drogenmissbrauch. Menschen, die über Jahre durch diese Erfahrungen geprägt sind, stellen ein Risiko für die Bevölkerung dar.

Mark M. ist Gefangener in der JVA Tegel (Name der Redaktion bekannt)

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