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Aus: Ausgabe vom 29.07.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Forschungen zur Arbeiterbewegung

Erlebte Solidarität

Neues Heft der Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung
Von Stefan Bollinger
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Vietnamesische Arbeiter kommen 1973 am Berliner Ostbahnhof an

Die aktuelle Ausgabe der Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG) packt kontroverse Themen an. Der Historiker und Afrikanist Ulrich van der Heyden setzt sich mit Verleumdungen und Verfälschungen der DDR-Solidaritätspolitik gegenüber Ländern der sogenannten dritten Welt auseinander. Dabei geht es insbesondere um das Feld der »Vertragsarbeiter«, die auf der Basis zwischenstaatlicher Verträge für jeweils mehrere Jahre verpflichtet wurden. Die meist jüngeren Menschen aus Mosambik, Angola, Vietnam, Kuba oder Algerien hatten unter friedlichen Bedingungen (während ihre Heimatländer oft unter von außen hineingetragenen »Bürgerkriegen« litten) die Chance auf Arbeit, Auskommen, Bildung. Sie sollten eine moderne Wirtschaft kennenlernen, sich am Arbeitsplatz und darüber hinaus qualifizieren und die Finanzen ihrer Entsendestaaten verbessern. Dass dies nicht immer funktionierte und in den ausgehenden 1980er Jahren manches in der DDR nicht mehr »rund« lief, ist unstrittig. Ebenso der Umstand, dass es für die DDR nicht »nur« um Solidarität ging, sondern auch um Arbeitskräfte, an denen es in vielen Betrieben mangelte.

Heyden rechnet dies und anderes sehr nüchtern auf und bettet es ein in eine Kritik der vor allem westdeutschen und im Geiste des Kalten Krieges betriebenen »Geschichtsaufarbeitung«. »In vielen dieser Erzählungen erkennen sich die dort ehemals beheimateten Bürger oder ihre Nachfahren nicht wieder«, so Heyden. Deshalb generierten Bücher, die eine objektivere Sicht auf die untergegangene DDR und die Ostdeutschen zu präsentieren versuchen, »im Osten Deutschlands soviel Aufmerksamkeit. Denn es geht letztlich um ein selbstbestimmtes Aufbegehren gegen die Verunglimpfungen derjenigen Menschen, die in der DDR gelebt haben.« Heyden zeigt, wie in der Frage der »Vertragsarbeiter« gegen die DDR, den Realsozialismus und den Internationalismus polemisiert wird und was von diesen Argumenten zu halten ist: Es geht um die Mär von »ungesühnten rassistischen Morden«, die »Ausbeutung« der Arbeitskräfte, vorgebliche Isolation und Kontaktverbote.

Wozu Akten studieren, die differenzierten Erinnerungen der ausländischen Arbeitskräfte zur Kenntnis nehmen oder die positiv freundschaftliche Erinnerung der Entsendestaaten und ihrer Befreiungsbewegungen berücksichtigen, wenn es gilt, Punkte gegen die DDR zu machen. Und warum sollen selbst wohlwollende »Aufarbeiter« die ganze Komplexität der historiographischen Auseinandersetzung der DDR mit der (nicht nur) deutschen Kolonialgeschichte anerkennen, warum die praktische Unterstützung der Befreiungsbewegungen in einer Zeit, in der die BRD stets auf der anderen Seite stand?

Heyden lässt keine Zweifel daran, dass nicht alles perfekt lief, dass nicht alle Facetten des Kolonialismus aufgearbeitet wurden, dass auch Menschen in der DDR Fremden mit Vorbehalten und Aggressionen begegneten. Aber er arbeitet das Grundanliegen und den Erfolg von erlebter und praktizierter Solidarität heraus, die zu den Errungenschaften der DDR und des Realsozialismus gehören.

Über die Schwierigkeiten von Revolutionen für ein demokratisches Deutschland berichtet Gerhard Weiss am Beispiel des revolutionären und konterrevolutionären Hamburg von 1918/19. Von der Einschätzung des heutigen Hamburger Regierungschefs, dass die Revolution friedlich verlief und »geradezu hanseatisch gesittet der Obrigkeitsstaat abgeschafft« wurde, bleibt bei ihm wenig übrig. Deutlich wird der Konflikt zwischen der parlamentarisch eingehegten »Volkssouveränität« und dem Ringen um die Rätemacht. Der radikale Arbeiter- und Soldatenrat stand nicht allein gegen die bislang Herrschenden, sondern musste sich auch in einer Hochburg des Reformismus behaupten. Letztlich besiegelten die Entscheidungen in Berlin, der Sturz der Bremer Räterepublik und die erfolgreiche Konterrevolution des Frühjahrs 1919 das Schicksal der Hamburger Revolution, die manche demokratische Idee verwirklichen konnte, aber mit ihrem antikapitalistischen Anspruch scheitern musste.

Die neue BzG-Ausgabe enthält auch den neunten und abschließenden Bericht Matthias Johns über die Verteidigung russischer Revolutionäre durch den Rechtsanwalt Karl Liebknecht vor Gericht in Königsberg (heute Kaliningrad) – ein Prozess, der letztlich weitgehend zugunsten der Angeklagten ausging und der russischen und deutschen Reaktion Grenzen setzte. Rezensionen, Berichte und Würdigungen runden das Heft wie üblich ab.

Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Nr. 2/2024, 184 Seiten, Einzelheft 16 Euro, Bestellungen über den Buchhandel oder direkt beim Trafo-Wissenschaftsverlag; Finkenstr. 8, 12261 Berlin, E-Mail: info@trafoberlin.de

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