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Aus: Ausgabe vom 30.07.2024, Seite 4 / Inland
Klassenkampf von oben

Verabredung zum Sozialraub

FDP- und CDU-Spitzen bekräftigen Forderungen nach Kürzungen beim Existenzminimum. Linke spricht von Volksverhetzung
Von Kristian Stemmler
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Carsten Linnemann (CDU) und Christian Lindner (FDP, r.) im Bundestag (Berlin, 6.9.2023)

Geht es um Kürzungen bei den Ärmsten, sind sich FDP und Union einig. In der Debatte um Verschärfungen beim Bürgergeld liefern sich die beiden Parteien derzeit einen regelrechten Überbietungswettbewerb. Den Aufschlag hatte am Sonnabend CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann gemacht. Er forderte, »arbeitsunwilligen« Beziehern das Existenzminimum komplett zu streichen. FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner nahm den Ball auf und erklärte am Sonntag, der Sozialstaat sei nicht für Menschen da, die nicht arbeiten wollten. Am Montag legte schließlich sein Generalsekretär Bijan Djir-Sarai nach und forderte grundlegende Reformen beim Bürgergeld.

Djir-Sarai verwies auf die geplanten Verschärfungen beim Bürgergeld, die von der Ampelkoalition vor drei Wochen angekündigt worden waren, darunter härtere Sanktionen für das Ablehnen »zumutbarer Arbeiten«. Dann fügte er hinzu: »Das reicht nicht. Wir wollen weitere Reformen beim Bürgergeld.« Leistung solle sich wieder mehr lohnen, zitierte er das Mantra aller Neoliberalen. Und zudem müssten sich die Sozialausgaben des Staates wieder mehr auf die konzentrieren, »die tatsächlich Unterstützung benötigen«.

Dies hatte mit anderen Worten auch sein Parteichef gefordert. Im am Sonntag gesendeten ARD-»Sommerinterview« kündigte Lindner an, die FDP mit dem Versprechen eines Umbaus des Sozialstaats in den nächsten Bundestagswahlkampf führen: »Grob gesagt, weg vom Umverteilungsstaat, hin zum aktivierenden Sozialstaat.« Bei der nächsten Bundestagswahl werde es zwei Optionen geben. Die erste bedeute höhere Steuern und mehr Schulden, wie es derzeit in Frankreich diskutiert werde – und für die FDP nicht in Frage kommt. Der andere Weg seien »ambitioniertere Strukturreformen und eine wachstumsfreundliche Politik«.

Dazu müsse aber über den Sozialstaat gesprochen werden, erklärte der Finanzminister. Wer bedürftig sei und »unsere Solidarität verdient«, brauche auch die Sicherheit, dass sie oder er sie erhalte. Wer auf der anderen Seite nicht arbeite, vorsätzlich Angebote ausschlage oder sich »irregulär« in Deutschland aufhalte, dürfe nicht vom deutschen Sozialstaat profitieren. Da gehe es um zweistellige Milliardenbeträge. Die Koalition habe beim Bürgergeld oder beim Asylbewerberleistungsgesetz schon einiges getan, aber es müsse noch mehr passieren, forderte der FDP-Vorsitzende.

Linnemann erntete mit seinem demagogischen Vorstoß, »arbeitsunwilligen« Bürgergeldbeziehern die Grundsicherung komplett zu streichen, am Montag Kritik aus dem wenig einflussreichen Sozialflügel seiner Partei. Christian Bäumler, Vizevorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), zufolge gehen die Forderungen des Generalsekretärs an der Wirklichkeit vorbei. »Wer für die Jobcenter nicht erreichbar ist, hat häufig psychisch Probleme«, erklärte Bäumler. Menschen in Deutschland dem Hunger auszusetzen sei mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar.

Deutlich schärfer fiel die Kritik der Partei Die Linke aus. Bundesgeschäftsführer Ates Gürpinar sagte am Montag, FDP, Union und sogar Teile der SPD hätten sich »einen Überbietungswettbewerb an Schäbigkeiten und Verunglimpfungen gegen die geleistet, die Bürgergeld empfangen«. Diejenigen, die von dem Recht auf diese Sozialleistung Gebrauch machen, seien keine Arbeitsverweigerer, sondern unter anderem Alleinerziehende, Kranke oder Menschen in Umschulungsmaßnahmen. Die Linke fordere deshalb, »dass Lindner, Linnemann und Co. mit solcher Volksverhetzung aufzuhören haben«.

Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld müssen sich unterdessen nicht nur auf schärfere Regeln einstellen, sondern auch auf eine mögliche Nullrunde. Anfang 2024 seien die Regelbedarfssätze im Vergleich zu den Vorjahren stark gestiegen, sagte eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums am Montag. Der Grund sei die vorhergegangene hohe Inflation. Weil aktuell die Preise weniger stark ansteigen als zuvor, rechne das Ministerium damit, dass »wahrscheinlich nach jetziger Lage zum 1. Januar 2025 es auch sein kann, dass es keine Erhöhung geben wird«.

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  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (30. Juli 2024 um 12:27 Uhr)
    Wie wird man derart zynisch und menschenverachtend? Selber den Hals nicht voll genug bekommen und Millionen an Steuergeldern in die eigenen Taschen lancieren, den ärmsten der Armen in diesem Lande jedoch nicht einmal »den Dreck unter den Fingernägeln« gönnen. Was ist das für eine Gesellschaft, die solche erbärmlichen asozialen Kreaturen hervorbringt, sie permanent mästet und sich von diesen auch noch willig und widerstandslos vor jeden dreckigen Karren spannen lässt?

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