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Aus: Ausgabe vom 31.07.2024, Seite 12 / Thema
Indien

Jenseits des Zenits

Modi-Dämmerung. Die Parlamentswahlen brachten dem indischen Premier nicht das gewünschte Ergebnis. Nun muss er mit verringerter Macht regieren
Von Radhika Desai
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It’s the economy, stupid! Narendra Modi hat angesichts trüber ökonomischer Entwicklungen einen Dämpfer hinnehmen müssen

Wir veröffentlichen an dieser Stelle ins Deutsche übersetzt und redaktionell gekürzt einen Beitrag der indisch-kanadischen Politikwissenschaftlerin Radhika Desai, der in der Ausgabe Mai/Juni 2024 der englischen Zeitschrift New Left Review publiziert wurde. Wir danken Autorin und Heftredaktion für die Genehmigung zum Abdruck. (jW)

Die Wahlen in Indien in diesem Jahr waren ein einziges Plebiszit über Premier Narendra Modi: Er war das einzige Gesicht seiner Partei BJP auf Kundgebungen, auf Plakaten, in Anzeigen und in den Medien. Sein triumphalistischer Slogan lautete: »Dieses Mal über 400!« Gemeint war damit, mehr als 400 Parlamentssitze für das BJP-geführte Wahlbündnis National Democratic Alliance (NDA) zu erobern, was deutlich jenseits einer Zweidrittelmehrheit gelegen hätte. Meinungsumfragen hatten darauf hingedeutet, dass die BJP dieses Ziel sogar hätte übertreffen können.

Mit einem Endergebnis von 240 Sitzen für die BJP musste Modi allerdings eine Niederlage hinnehmen. Das waren 63 weniger als jene 303 Sitze, die die Partei 2019 gewonnen hatte. Insgesamt kamen Modi und die Verbündeten von der NDA auf 293 Sitze in der 543 Sitze umfassenden Lok Sabha, der oppositionelle Block um die Kongress-Partei erreichte 234 Sitze. Der Kongress allein konnte mit 99 Sitzen sein Ergebnis von 2019 fast verdoppeln. Die dramatischen Veränderungen der Sitzverteilung beruhen allerdings lediglich auf kleinen Verschiebungen bei den Stimmenanteilen der Parteien – ein Ergebnis des mit britischen Verhältnissen vergleichbaren Mehrheitswahlrechts. So verlor die BJP gegenüber 2019 bloß 1,2 Prozentpunkte, der Kongress konnte sich von 19,7 auf 21,19 Prozent verbessern. Die oberen Kasten stimmten weiterhin mehrheitlich für die BJP, außerdem Hindus aus der Mittelschicht, eine solide Mehrheit der städtischen Wähler und ein großer Teil der ökonomisch rückständigen Klassen.

Doch trotz großer Anstrengungen und Kosten gelang es der Partei nicht, im Süden signifikante Erfolge zu verbuchen. Deutliche Verluste erlitt sie in ihren traditionellen Hindi-Hochburgen. Im Bundesstaat Gujarat ging ein Sitz verloren, was unter Modi noch nie passiert ist, und in Uttar Pradesh fiel die BJP von 71 Sitzen 2014 auf 33 Sitze 2024. Dieser Schlag war besonders schwer, da das Modi-Regime dort die Errichtung des hinduistischen Tempels Ram Mandir in pharaonischem Ausmaß veranlasst hatte. Seine Einweihung sollte die große Wahlkampfbazooka des Jahres 2024 sein und zumindest im Bundesstaat Uttar Pradesh einen triumphalen Wahlsieg garantieren.

Mit einem knappen Sieg, der wie eine Niederlage wirkt, muss Modi nun Kompromisse mit zwei Parteien schließen: mit der Janata Dal (United) aus Bihar und der Telugu Desam Party in Andhra Pradesh, deren Führer ihre eigene Agenda haben und sich gegen Modis Islamophobie wehren. Die neue Bedeutung von Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf der Grundlage der Kastenzugehörigkeit macht dem langfristigen Ziel des Hindu-Nationalismus (Hindutva), die Hindus über tiefgreifende Kastengrenzen hinweg symbolisch zu vereinen, indem die Muslime ins Visier genommen werden, einen Strich durch die Rechnung. Die wiedererstarkte Opposition ist entschlossen, die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Noch beunruhigender für den geschwächten Modi ist allerdings, dass er nun mit einer Opposition innerhalb der BJP wie auch innerhalb ihrer Mutterorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), einer paramilitärischen, hindu-nationalistischen Formation, konfrontiert ist.

Aufstieg

Gegründet wurde der RSS 1925 als eine von zahlreichen hindu-nationalistischen Gruppierungen, von denen er sich aber von Anfang an durch die Schlagkraft seiner uniformierten Mitglieder unterschied. Mit ihm affiliiert sind Jugend-, Frauen-, Kultur und Arbeiterorganisationen, bekannt als Parivar (Familie) des RSS. Der Einstieg in die parlamentarische Politik erfolgte nach der Ermordung Mahatma Gandhis durch die Hand eines ihrer Sympathisanten 1948. In den 1950er und 60er Jahren blieb die Bharatiya Jana Sangh (BJS), wie der RSS damals hieß, auf die höheren Kasten in den Hindu-Hochburgen beschränkt. Ihre Ideologie unterschied sich praktisch nicht vom modernen brahmanischen Hinduismus, der die oberen Kasten privilegiert, die etwa zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Solche Ideologie und Politik waren in der Ära der überwältigenden Vorherrschaft der Kongresspartei in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit, als die oberen Kasten unangefochten die Politik dominierten und der Kongress selbst von einer elitären Brahmanen-Familie geführt wurde, schlichtweg überflüssig.

Das hätte so bleiben können, wenn sich die Kongress-Partei nicht in Probleme hinein manövriert hätte. Die Führungsspitze verachtete nicht nur die zusehends mächtiger und wohlhabender werdenden Bauern der mittleren Kaste, die der Partei die Stimmen in den ländlichen Gebieten lieferten. Schlimmer noch, die Pläne der Kongress-Partei zur Industrialisierung verlangten den Transfer ländlicher Überschüsse in Investitionen. Eine Massenmobilisierung bzw. eine Aufklärungskampagne zugunsten dieses Projekts unterblieb jedoch. Das Ergebnis war das Scheitern der Industrialisierung und die Abwendung dieser bäuerlichen Schichten von der Kongress-Partei unter damaliger Führung von Indira Gandhi.

Seit der daraus resultierenden »Planungskrise« der späten 1960er Jahre setzte die indische Wirtschaftspolitik konsequent auf die marktwirtschaftliche Option – ein Trend, der sich mit der Durchsetzung neoliberaler Reformen in den 1980er Jahren und mit der Übernahme von Strukturanpassungsempfehlungen des IWF in den 1990er Jahren verstärkte. Die politische Konsequenz war der Niedergang der Kongress-Partei, der bereits mit den Wahlen von 1967 eingeläutet worden war, als die Partei gleich acht Bundesstaaten, darunter so große wie Uttar Pradesh und Tamil Nadu, an neue regionale Formationen verlor. Die BJS war eine der Nutznießerinnen dieses Antikongressismus. Gandhis Antwort, eine scharfe Wendung nach links, brachte ihr neben der schon laufenden Revolte auf dem Lande eine Revolte der städtischen Mittelklasse ein. Die BJS witterte die Gelegenheit, verwässerte ihr Hindutva-Programm und schloss sich der bunten Anti-Kongress-Bewegung an. Unterstützt von den aufstrebenden ländlichen Mittelkasten und der städtischen Opposition aus der oberen Mittelschicht kam die neu zur Janata-Partei (JP) fusionierte Kraft nach dem Ende des Ausnahmezustands 1977 an die Macht. Die BJS-Führer Atal Bihari Vajpayee und Lal Krishna Advani, Mitglieder des RSS seit ihren Teenagerjahren in den 1940er Jahren, wurden Minister für Auswärtige Angelegenheiten beziehungsweise für Information und Rundfunk.

Als sich die Janata-Regierung 1979 auflöste, erneuerte sich die BJS zur BJP, hielt aber zunächst, wie innerhalb der JP praktiziert, an einem verwässerten Hindutva fest, was ihr bei den Wahlen 1984 allerdings nur sieben Prozent der Stimmen und bloß zwei Parlamentssitze einbrachte. In der Folge kehrte die Partei zum Hindutva strenger Observanz zurück und lancierte eine Massenkampagne für die Beseitigung der Babri-Moschee in Ayodhya und der Errichtung eines Ram-Tempels an deren Stelle. Der neue Ansatz hatte Erfolg. 1989 gewann die BJP 85 Sitze, 1996 waren es 161; ihr Anteil an den Wählerstimmen stieg auf elf bzw. 20 Prozent. Soziologisch betrachtet ergriff das Hindutva-Programm mit diesem Wahlerfolg die dominanten und mittleren Kasten zu Lasten des Kongresses. In den 1980er Jahren hatten sich diese Schichten zu provinziellen Eigentümerklassen entwickelt, deren Geschäftsinteressen über die Landwirtschaft hinausgingen. Sie begannen nun auch eigene Parteien zu gründen, und zwar auf bundesstaatlicher Ebene, die in der Regel »Regionalparteien« genannt werden, aber treffender als Parteien der besitzenden Klassen in den Provinzen zu bezeichnen sind, und die Reichweite des indischen Kapitalismus zu jener Zeit erheblich ausdehnten.

Das Wachstum der BJP in den 1980er und 90er Jahren beruhte im wesentlichen darauf, die mittleren Kasten für sich zu gewinnen. Am einfachsten gelang dies in Gujarat, wo es historisch kaum Kämpfe der Dalits und der unteren Kasten gegen den Brahmanismus gab und wo die kapitalistische Entwicklung die soziale Distanz zwischen den oberen Kasten und den landbesitzenden, bäuerlichen Kasten verringert hatte. Andernorts bildeten diese Schichten, wie erwähnt, vor dem Hintergrund einer Kombination aus linker und antibrahmanischer Tradition wie in weiten Teilen des Südens oder aufgrund von Spannungen mit der oberen besitzenden Kaste wie in den nördlichen Bundesstaaten Uttar Pradesh und Bihar eigene Parteien, die den Vormarsch der BJP eindämmten.

Diese drei grundlegenden Trends in der indischen Politik in jenen Jahrzehnten – der Niedergang des Kongresses, der Aufstieg der BJP und jener der Parteien der besitzenden Klassen in den Provinzen – sorgten dafür, dass Einparteienregierungen der Vergangenheit angehörten. Der verschärfte Neoliberalismus in der Wirtschaftspolitik, beschleunigt von Finanzminister Manmohan Singh von der Kongress-Partei ab 1992, hatte unter anderem zur Folge, dass keine Regierung nach Ablauf einer vollen Amtszeit wiedergewählt wurde. Die BJP war bereits 1996 zur größten Partei in der Lok Sabha aufgestiegen, gleichwohl gelang es der Linken, eine Koalitionsregierung mit den besitzenden Klassen in den Provinzen zu bilden und die BJP von der Macht fernzuhalten. Doch diese Regierung erwies sich als kurzlebig, und die BJP konnte nach den Wahlen von 1998 mit vielen dieser Regionalparteien eine Koalition bilden. In ihrer Amtszeit von 1998 bis 2004 mit Vajpayee als Premierminister vertiefte sie die neoliberale Wende, die Singh eingeleitet hatte, und erlitt 2004 eine herbe Niederlage, als sie vom Kongress und einer kurzzeitig wiedererstarkten Linken überholt wurde.

India Inc.

Im Laufe der Jahrzehnte neoliberaler Politik hatte sich Indiens Kapitalistenklasse über die Handvoll alteingesessener Parsen, Marwari und Gujarati hinaus erweitert und umfasste nun auch die aufstrebenden Unternehmer aus der Provinz. Anfang der 2000er Jahre war ein neuer Trend zu beobachten: Konzentration – und zwar auf eine ganz besondere Art. Im Jahr 1990 hatten die 20 größten indischen Unternehmen 14 Prozent der Gesamtgewinne erwirtschaftet; bis 2010 hatte sich der Anteil mehr als verdoppelt. Unter Indiens neuen Milliardären waren die drei Faktoren Land, natürliche Ressourcen und Staatsaufträge die wichtigsten Quellen des Reichtums. Dies war der Aufstieg des »India Inc.« genannten formellen Sektors. Der aber war bis 2014 auf staatliche Zuwendungen, Verträge und Kooperationen angewiesen, um Zugang zu Ressourcen und zinsgünstigen Krediten von öffentlichen Banken zu erhalten, was die von Kongress geführte Regierung in erhebliche Korruptionsskandale verwickelte, auf die eine große Antikorruptionsbewegung der Mittelschicht antwortete, die zweifellos von der BJP unterstützt wurde.

Mit der Ausweitung der Korruptionsvorwürfe war die erprobte Kommunikation zwischen India Inc. und der Regierung eingefroren. Die Unternehmer begannen lautstark über die »politische Lähmung« zu klagen. Auf der Suche nach einer Alternative stießen sie auf den BJP-Ministerpräsidenten von Gujarat, Narendra Modi. Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts hatte der bewiesen, dass er ihre Wünsche erfüllen, zugleich Wahlen gewinnen und Korruptionsvorwürfen aus dem Weg gehen konnte. Dies gelang ihm, indem er eine autoritär geformte Hindu-Mehrheit gegen die muslimische Bevölkerung von Gujarat in Stellung brachte, die Zwangs- und Verwaltungsmacht des Staates gebrauchte und die zwielichtigen Organisationen der RSS-Familie einsetzte. Derweil perlten Korruptionsvorwürfe an Modi ab, da er so aggressiv deregulierte, dass praktisch alles, was India Inc. wollte, legal wurde.

Obwohl Indiens Milliardäre das Pogrom von 2002 gegen Muslime missbilligt hatten, mit dem Modi seine lange Amtszeit als Ministerpräsident von Gujarat begonnen hatte, brachte der Chief Minister India Inc. nicht nur dazu, mit seinem Bundesstaat Geschäfte zu machen, sondern avancierte bald zum Liebling der Unternehmer. Als die Investitionen in das Land strömten, wurde bald vom »Gujarat-Modell« gesprochen, dem ganz Indien folgen sollte.

sich die Krise der »politischen Lähmung« des Kongresses zuspitzte, forderten Indiens Kapitalisten, Modi zum Nachfolger Vajpayees zu ernennen. Ohne diesen Segen von Unternehmensseite hätte es das Phänomen Modi nicht gegeben. Nachdem er 2014 zum Kandidaten für das Amt des Premierministers gekürt worden war, wurde er von der India Inc. mit Geld überhäuft. Die Unternehmensspenden im Jahr 2014 an die BJP in Höhe von etwa fünf Milliarden US-Dollar fielen mehr als dreimal so hoch aus wie diejenigen an den Kongress.

Die Milliarden der India Inc. mögen zwar Modis Hauptvorteil gewesen sein, hinzu kommen aber auch andere Faktoren, die seinen Erfolg bewirkten. Erstens, eine fertige Ideologie. Nachdem der entwicklungspolitische Ansatz der Kongress-Partei den politischen Test nicht bestanden hatte, war Hindutva die geeignete Ideologie, hinter der sich Indiens besitzende Klassen vereinen konnten. Dank Modis finanziellem Vorsprung konnten zweitens die RSS-Zweigorganisationen die Zahl ihrer Mitarbeiter um Hunderttausende neu angeheuerte Kräfte erweitern, während zugleich die BJP nach eigenen Angaben 235 Millionen Mitglieder zählt, was sie zu einer beachtlichen Wahlmaschine macht. Drittens stellte die indische Unternehmerschaft ihre ausgeprägte Medienmacht in die Dienste Modis.

Viertens wurde die parlamentarische Mehrheit genutzt, um die Opposition aus dem Weg zu räumen. Parlamentsdebatten wurden auf ein absolutes Minimum beschränkt, Gesetze ohne Diskussion durchgepeitscht, führende Oppositionspolitiker aus der Lok Sabha ausgeschlossen. Modi hat fünftens den Staatsapparat ungestraft für politische und wahltaktische Zwecke eingesetzt und dessen Institutionen unterminiert. Mehr denn je haben Staat und Justiz unter seiner Führung unbegründete Korruptionsvorwürfe gegen Oppositionspolitiker erhoben, Steuerrazzien gegen Kritiker aus der Zivilgesellschaft oder den Medien durchgeführt, Politiker bedroht beziehungsweise sie zwingen wollen, der BJP oder dem BJP-geführten Wahlbündnis beizutreten: Sage und schreibe ein Viertel der BJP-Kandidaten für die Wahlen von 2024 waren Überläufer.

Sechstens: Die Schlägertrupps der Sangh Parivar und die Aktivisten der Partei fungieren als Wächter, die die Grenzen des zulässigen Diskurses und Handelns festlegen, wobei sie oft ungestraft Gewalt anwenden. Ihr Hauptziel sind Muslime, die systematisch marginalisiert werden. Die BJP gibt nicht einmal mehr Lippenbekenntnisse zum Säkularismus ab, untersagt das traditionelle Fastenbrechen während des Ramadan und verweigert Muslimen die Aushändigung von Wahlkarten, während deren Häuser, Gemeindegebäude und Moscheen regelmäßig von Bulldozern zerstört werden. Siebtens schließlich hat die BJP das ohnehin bloß rudimentäre Wohlfahrtssystem, 2005 von der Kongress-Partei eingeführt, in ein patrimoniales System verwandelt, das Wahlkampfzwecken dient. Anstatt die öffentliche Daseinsvorsorge zu gewährleisten, also Schulen, Krankenhäuser, Straßen etc. bereitzustellen, liefert Modis neues Wohlfahrtsregime eine verwirrende Bandbreite privater Güter auf öffentliche Kosten, seien es Gasflaschen, Bankkonten, Toiletten, Wohnungen oder Krankenversicherungen. Modis Konterfei prangt auf jeder verfügbaren Oberfläche dieser Güter, was ihn als Urheber dieser Großzügigkeit erscheinen lässt.

Die Mythen des Modi-Booms

Trotz all dieser Faktoren scheiterte Modi an seinem Ziel, bei der jüngsten Wahl mehr als 400 Mandate zu erobern. Wie das? Wo liefen die Dinge schief? Dort, wo sie üblicherweise schieflaufen: in der Wirtschaft. Die Medien ignorierten Hinweise darauf, dass die entscheidenden Kennziffern – Investitionen, Exporte, Kreditvergabe – eine rückläufige Tendenz aufwiesen, und verschwiegen zudem hohe Inflation und Arbeitslosigkeit sowie eine akute Notlage im Agrarsektor und eine sinkende Kalorienzufuhr. Gleichzeitig sind Indiens einst zuverlässige statistische Erhebungen zweifelhaft geworden. Die äußerst wichtige Erfassung der Beschäftigungsdaten durch die National Sample Survey Organization wurde eingestellt. Methodische Änderungen bei der Ermittlung des BIP haben dafür gesorgt, dass die Wachstumsraten in der Modi-Ära systematisch um zwei bis vier Prozent überschätzt wurden. Nach der Korrektur fällt das Wachstum Indiens niedriger aus als das Chinas und damit recht unspektakulär angesichts einer Wirtschaft, die deutlich weniger ausgereift ist als die chinesische. Die Armutsdaten werden manipuliert, um vorteilhafter zu erscheinen. Die Volkszählung für 2021 wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Unbequeme Berichte werden unterdrückt.

Ungeachtet der Rhetorik von der »Entwicklung für alle« hat Modi ein einfaches wirtschaftliches Programm mit nur einem Punkt: tun, was India Inc. will. Auf das Modi-Jahrzehnt entfallen 72 Prozent aller Privatisierungen seit 1991. Die Deregulierung von Kapital, Arbeit, Landwirtschaft und Umwelt wurde auf ein bisher unvorstellbares Niveau gebracht, während die Besteuerung regressiver denn je wurde. Die Gesetzgebung war oftmals maßgeschneidert für bestimmte Unternehmen und Projekte: Der Aufstieg des Adani-Konzerns erfolgte durch eine Lockerung früherer Vorschriften und verschleierte Drohungen gegen Konkurrenten durch staatliche Ermittlungsbehörden. Nach Beschwerden über aggressive Preiskämpfe von Reliance Jio (betrieben von dem Tycoon Mukesh Ambani) im Telekommunikationssektor änderte die zuständige Regulierungsbehörde eilig die bisherigen Regeln: kein Regelverstoß, kein Schaden. In ähnlicher Weise änderte das Ministerium für Handel und Industrie die Vorschriften für Sonderwirtschaftszonen zugunsten von Adanis Kohlekraftwerk in Godda und hob die Umweltvorschriften für die Minen des Konzerns auf. Die BJP setzte zudem Gesetze durch, mit denen die Dominanz der Großunternehmen über die indische Wirtschaft verstärkt wurde bzw. kleine und mittlere Unternehmen (KMU) wie auch die unteren Ränge der Kapitalistenklasse benachteiligt wurden. Während die Ausgaben für Wohlfahrt, Gesundheit und Bildung sanken, boomten die Infrastrukturausgaben, Kumpane aus den Konzernen erhielten gigantische Aufträge mit Staatsgarantie, die eine solche schuldengetriebene Expansion absicherten.

Die Ergebnisse waren bald sichtbar. Die Konzentration steigerte die Profitabilität einer Handvoll riesiger Konzerne, die inzwischen die meisten Sektoren dominieren. Die Zahl der indischen Milliardäre wuchs, ebenso die Ungleichheit. Indien Inc. und die reichste Schicht der Bevölkerung hatten es noch nie so gut wie heute; der Rest ging durchs ökonomische Fegefeuer. Modi vernachlässigte den riesigen informellen Sektor und die KMU, die die meisten Arbeitsplätze schaffen, während er kapital- und importintensive Unternehmungen unterstützte. Obwohl die Erwerbsquote in Indien unter 50 Prozent gefallen ist, bleibt die Arbeitslosigkeit hoch, die Jugendarbeitslosigkeit hat inzwischen ein explosives Niveau erreicht, buchstäblich Tausende Bewerber kommen auf einen Job. Arbeitsplätze im öffentlichen und privaten Sektor wurden in Gelegenheitsjobs umgewandelt.

Die Modi-Regierung hat zudem die bereits akute Krise der indischen Landwirtschaft verschärft. Ein Bericht von 2006 hatte aufgezeigt, was nötig gewesen wäre: eine weitere Umverteilung von Land, eine Beschränkung der Umwidmung von landwirtschaftlichen Flächen für andere Zwecke, die Festigung von Weiderechten und anderen Gemeinschaftsrechten und vor allem öffentliche Investitionen in das Wassermanagement und in Bodenuntersuchungen. Statt dessen hat die Deregulierungsoffensive der BJP die Inputpreise erhöht und die Outputpreise gedrückt, und dennoch bekommt der Endverbraucher die Inflation der Lebensmittelpreise zu spüren. Nutznießer waren eine Handvoll Großkonzerne und Zwischenhändler. Modi hat die Politik der Mindeststützungspreise aufgegeben und die Ernteversicherungssysteme in eine Bonanza für Unternehmensgewinne verwandelt. Mit den berüchtigten Landwirtschaftsgesetzen wäre der verbliebene Preisschutz endgültig abgebaut und der Weg für das Contract Farming (eine vertragliche Vereinbarung zwischen Bauer und einem verarbeitenden oder vermarktenden Unternehmen) geebnet worden, das den Konzernen nutzt, die so die Preise manipulieren können. Während der heroische Widerstand der Bauern in den Jahren 2019 und 2020 Modi zwang, von diesen Gesetzen Abstand zu nehmen, werden sie nun Stück für Stück eingeführt, was in diesem Jahr eine neue Runde von Bauernmobilisierungen auslöste. Die Landwirtschaftskrise war ein entscheidender Faktor für Modis Stimmenverluste auf dem Land.

Wieder geerdet

Als die Wahlen 2024 näherrückten, stand trotz vieler Vorteile ein Jahrzehnt ökonomischer Beschädigung in Modis Bilanz. Seinen wichtigsten Trumpf konnte er allerdings halten. Obwohl der Oberste Gerichtshof im Februar 2024 entschieden hatte, dass Wahlkampfanleihen verfassungswidrig sind, was den Ruch einer korrupten BJP verstärkte, fiel Modi der Zugang zum Geld der India Inc. leichter denn je. Die Ausgaben für den Wahlkampf hatten sich gegenüber 2019 verdoppelt. Modi konnte im ganzen Land nach Belieben Wahlkampf betreiben, während die Regierung viele Konten der Kongress-Partei unter Angabe von fadenscheinigen Gründen einfror. Andere Faktoren schienen dagegen unsicher geworden zu sein. Zwar blieben Presse und Fernsehen dem Premier gewogen, aber die sozialen Medien und alternative Nachrichtenseiten überführten Modi regelmäßig der Lüge. Die Beziehungen zwischen BJP und der RSS verschlechterten sich, Modi begann, auf seine früheren Brüder verächtlich herabzublicken, und ließ während des Wahlkampfs Vorwürfe lancieren, RSS-Angehörige säßen in diesem oder jenem Wahlkreis »auf ihren Händen«.

Die Einweihung des Tempels in Ayodhya 2024 sollte der BJP einen großen Schub verpassen. Doch als der Wahlkampf in Gang kam, berichteten viele vor Ort, dass kaum ein »Tempel«-Effekt zu beobachten war. Derart alarmiert, setzte Modi auf die Mobilisierung des antimuslimischen Hasses. Zu Beginn seiner Kundgebung in Banswara, Rajasthan, behauptete der Premier, die vom Kongress angeführte Indien-Koalition werde den Reichtum der Hindus enteignen und ihn an »diejenigen verteilen, die mehr Kinder haben«, womit er Muslime meinte. Er nannte Muslime »Eindringlinge«, die einen »Dschihad um Wählerstimmen« führten, verglich den Kongress mit der Muslimliga und behauptete, die Indien-Koalition würde Gelder für Bildung und Arbeitsplätze an Muslime verteilen, während bedürftige Hindus benachteiligt würden, und so weiter. Es reichte nicht zum Triumph.

Nun wird Modi, zur Koalitionsregierung gezwungen, auch mit einer wiedererstarkten Opposition konfrontiert sein, mit kritischeren Medien, mit einem weniger eingeschüchterten Staatsapparat, mit Opposition in der eigenen Partei und mit einer wütenden RSS. Und doch bleibt der Sieg, der wie eine Niederlage anmutet, ein Sieg. Modi ist als Premierminister vereidigt worden. Die BJP bleibt mit Abstand die größte Partei in der Lok Sabha und Hindutva die wirksamste politische Ideologie. Auch wenn India Inc. vielleicht nicht ganz so viel für ihr Geld bekommt, wird ihr Bedarf an einer willfährigen Regierungspartei nicht geringer sein.

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Bratanovic

Radhika Desai ist Professorin und Direktorin der Geopolitical Economy Research Group an der University of Manitoba.

New Left Review 147, Mai/Juni – newleftreview.org/

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martina D. aus 15306 Vierlinden bei Seelow (31. Juli 2024 um 07:33 Uhr)
    Der Artikel ist eine anschauliche Untermalung der Imperialismustheorie von Lenin, eine Fortschreibung, weil die Formen, Extraprofit für führende Kapitalfraktionen zu erzielen, von diesen mit Hilfe der Regierung verschärft werden konnten. Modi betreibt eine neoliberal-reaktionäre Politik mit faschistischen Zügen. Auf Kosten weniger extrem Reicher wird das Volk ruiniert, die absolute Armut muss katastrophal sein, aber er schafft ein Klassenzusammengehörigkeitsgefühl, indem er auf eine religiöse Minderheit eindrischt. Letzteres erinnert doch sehr an den Umgang der deutschen Faschisten mit den Juden ebenso wie die Gewalt, mit der Opposition ausgeschaltet und soziale Forderungen im Keim erstickt werden. Kann Indien damit positive Effekte innerhalb der BRICS-Staaten auslösen? Leider sagt die Autorin nichts zur Rolle der KP Indiens. Vor Jahren las ich, dass in zwei südlichen Bundesstaaten, in denen Kommunisten regierten, kostenlose Bildungs- und Gesundheitssysteme eingeführt wurden, wodurch auch die hohe Geburtenrate der Armen herunterging. Vielleicht sind diese Maßnahmen rückgängig gemacht worden? Offensichtlich ist das kapitalistische bzw. imperialistische Wirtschaftssystem weltweit reif für einen revolutionären Umsturz, nur die potentiellen Umstürzler – wir – sind es nicht.

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