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Aus: Ausgabe vom 31.07.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Leitzins

Von Lucas Zeise
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Geld. Jetzt. Doch zu welchem Zinssatz? Die Leitplanken setzt die Zentralbank

Das Wort Leitzins wird heute für jene Zinsen verwendet, die die Zentral- oder Notenbank von den Geschäftsbanken verlangt, wenn sie ihnen Kredit gibt. Die Notenbank kann den Zins selbstherrlich bestimmen, denn sie kann das Geld aus dem Nichts schöpfen. Sie hat per Gesetz die sprichwörtliche Lizenz zum Gelddrucken. Sie kann, wie das in dem Jahrzehnt vor 2022 die Europäische Zentralbank gemacht hat, den Banken das von ihr geschöpfte Geld auch zum Nullzins leihen. Sie geht deshalb nicht zugrunde, denn sie hat für diese Kredite auch nichts bezahlt.

Die Bedeutung, die Notenbanken im heutigen Kapitalismus spielen, ist auch unter Linken umstritten. Marxisten neigen dazu, die Rolle des Geldes und der Finanzen im Gesamtgefüge des Kapitalismus als schlechthin zweitrangig einzuschätzen. Waren-, Wert- und Mehrwertproduktion sowie die Akkumulation treiben den Kapitalismus voran. Seine Dynamik und seine Widersprüche entstehen dort. Im Eifer dieser Erkenntnis wird die Rolle des Geldes und die des Kapitalmarktes gern unterbelichtet. Für Wirtschaftspolitik oder gar Geldpolitik ist da kein Platz: Der Zinszyklus folgt dem konjunkturellen Auf und Ab des Produktionszyklus. Wenn das so ist, spielen die Banken als Instanzen des Kapitalmarktes nur eine ausführende Rolle. Als Schöpfer des Kredits und des Geldes kommen sie in der Analyse nicht vor. Und wenn das so ist, exekutieren auch die Notenbanken nur das, was die Bewegungsgesetze des Kapitalismus ihnen vorschreiben. Wenn der Marktzins sinkt, senkt auch die Notenbank ihren »Leitzins«, der in Wirklichkeit kein Leitzins, sondern ein braver »Folgezins« ist.

In der Tat sind niedrige Zinsen die Folge des Überangebots an Anlage suchendem Geldkapital (fiktivem Kapital) und der kümmerlich niedrigen Nachfrage nach Krediten. Das seit 2021 etwas höhere Zinsniveau ist eine Folge der Inflation. Keine Geschäftsbank kann es sich leisten, Kredite zu Zinsen unterhalb der Inflationsrate zu geben. Grundsätzlich ist der Zinszyklus Widerspiegelung des internationalen Konjunkturzyklus. Dennoch kann der Zinszyklus dem Auf und Ab der Realwirtschaft vorauslaufen, Bewegungen des Finanzkapitals können den konjunkturellen Trend umkehren und geradezu notorisch zum Auslöser von Krisen werden.

Wichtiger noch als die Beeinflussung des Zinsniveaus, der Kreditvergabe und damit der Konjunktur ist (oder wäre) der Handlungsspielraum der Notenbank bei der Beeinflussung des Außenwerts der von ihr ausgegebenen Währung. In einem nach dem Zweiten Weltkrieg herrschenden, halbwegs rationalen System fester Wechselkurse waren die Notenbanken gemeinsam verpflichtet, durch Verkauf oder Rückkauf die eigene Währung im vertragsgemäßen Verhältnis zu anderen zu halten. Das hat zwei Jahrzehnte lang einigermaßen funktioniert. Im praktischen Alltag des heute geltenden internationalen Finanzsystems bestimmen bei freiem Kapitalverkehr die riesigen Geldkapitalströme auf der Jagd nach höchstem Profit das Auf und Ab der Währung. Schwankende Wechselkurse (Entwertung oder zu starke Aufwertung der eigenen Währung) führen bei zahllosen Entwicklungs- und Schwellenländern zu tiefen Krisen. Jüngste Beispiele sind Venezuela, Türkei, Libanon, Argentinien und Russland. Den Leitzins der Notenbank eines Landes heraufzusetzen, ist die traditionelle Methode jedes von Kapitalabfluss bedrohten Landes, um Kapital ins Land zurückzulocken. Die Türkei, immerhin ein bedeutender kapitalistischer Staat im Kreis der sogenannten G20, wurde in den letzten Jahren wiederholt attackiert, weil die Regierung Erdoğan und ihre Notenbank sich eine Weile lang weigerten, die vom Finanzkapital geforderte Leitzinserhöhung vorzunehmen. Recep Tayyip Erdoğan hat schließlich nachgegeben und so einmal mehr demonstriert, dass der Handlungsspielraum normaler Notenbanken bei der Setzung des Leitzinses minimal ist.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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  • Leserbrief von Bernhard May aus Solingen (9. August 2024 um 11:00 Uhr)
    Unterbelichtet bleibt die Funktion der Leitzinsen in keynesianischer Sicht: Öffentliche Investitionen sollen Krisen abfedern und spiegelbildlich konjunkturelle Überhitzungen dämpfen. Das kann durch gezielte Verschuldung und Steuern/Abgaben erfolgen, deren antizyklische Wirkung sich freilich nur ohne (!) »Schuldenbremse« entfalten konnte. Eine Methode dafür liegt jedoch auch in der öffentlichen Einflussnahme auf die »Geldmenge«: Genau diese wird maßgeblich durch die Leitzinsen bestimmt! Noch Helmut Schmidt (Kanzler 1974–1982) legte sich in dieser Sache couragiert mit der als »unabhängig« konstruierten Bundesbank an. Die EZB wurde von Schwarz-gelb bewusst ähnlich »unabhängig« konstruiert, womit deren Neoliberalismus jegliche aktive Wirtschaftspolitik torpediert! - Dass sich allerdings die SPD zur »Schuldenbremse« breitschlagen ließ, zeigt ihre Geschichtsvergessenheit. Während der Ära Brandt/Kreisky/Palme erfolgten aktiv keynesianische Wirtschaftspolitiken in Nord- und Mitteleuropa, und das mit Erfolg! Norwegen verhielt sich noch weit über die 1980er Jahre hinaus klar keynesianisch.