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Aus: Ausgabe vom 31.07.2024, Seite 15 / Antifaschismus
80 Jahre Warschauer Aufstand

Kult der Niederlage

Polen: Offizielles Gedenken an Warschauer Aufstand gegen die faschistische deutsche Besatzungsmacht vor 80 Jahren
Von Reinhard Lauterbach
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Das Denkmal auf dem Krasiński-Platz vor dem Gebäude des Obersten Gerichts (Warschau, 8.8.2023)

Jeder, der am Zentralbahnhof aus dem Zug steigt, sieht, dass Warschau keine schöne Stadt ist. Man sollte gerade als Deutscher diesen Gedanken aber für sich behalten, denn vor dem Zweiten Weltkrieg galt Warschau als »Paris des Ostens«. Dass es das nicht mehr ist, sondern als die amerikanischste Metropole Europas gilt, verdankt es deutscher Gründlichkeit bei der flächendeckenden Zerstörung der Stadt nach dem Warschauer Aufstand von 1944.

An jedem 1. August heulen um 17 Uhr in ganz Polen die Sirenen. In Warschau bleiben die Straßenbahnen stehen, die Autos fahren an den Straßenrand, Fußgänger halten inne. Die Stadt hält fünf Schweigeminuten ein. Erinnert wird an die größte Niederlage der polnischen Militärgeschichte. Der in Torschlusspanik angesichts des raschen Vormarsches der Roten Armee mit unzureichenden Kräften ausgelöste Aufstand der »Heimatarmee«, die der Londoner Exilregierung unterstand, richtete sich, wie polnische Kritiker schon kurz nach 1945 sagten, militärisch gegen Deutschland, politisch gegen die Sowjetunion – und praktisch gegen die eigene Bevölkerung.

200.000 Zivilisten wurden im Zuge der Aufstandsbekämpfung von Wehrmacht, SS und osteuropäischen Hilfshenkern getötet. 600.000 Warschauer wurden vertrieben, die Soldateska plünderte, was nicht niet- und nagelfest war, und entfesselte eine Orgie sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen. 1945 wurde im befreiten Polen ernsthaft diskutiert, ob man Warschau überhaupt wieder aufbauen oder nicht vielleicht die Hauptstadt ins unzerstörte – weil von den Deutschen fluchtartig geräumte – Łódź verlegen sollte.

Wie erinnert man an diese Kata­strophe, die der Oberbefehlshaber der an der Seite der Westalliierten kämpfenden polnischen Armee, General Władysław Anders, umstandslos als »Verbrechen am eigenen Volk« bezeichnet hat? Da sich die Opfer auf polnischer Seite nicht durch einen erreichten politischen Zweck rechtfertigen lassen, bleibt als Erinnerungsgut der Wille, der – im offiziellen Rückblick – »zweiten Okkupation« zuvorkommen zu wollen, und vor allem der unbestreitbare Heldenmut der Aufstandskämpfer. Sie waren oft in einem Alter, für das man heute die Bezeichnung »Kindersoldaten« verwendet, kamen von den illegalen polnischen Pfadfindern, die der »Heimatarmee« als informelles Rekrutierungsreservoir dienten.

Getrieben von der Hoffnung, die verhasste deutsche Besatzung endlich abzuschütteln, ließen sie sich von ihrer Führung mit ein paar Handgranaten als einzige Waffen zum Sturm auf ein mehrstöckiges Gestapo-Bürogebäude schicken. Mädchen kämpften als Meldegängerinnen und Sanitäterinnen mit. Am Aufstand teilgenommen zu haben macht die wenigen Personen aus dieser Gruppe, die heute noch leben, im polnischen Diskurs automatisch zu moralischen Autoritäten, deren Argumente als durch ihre Biographie beglaubigt gelten.

Es ist nicht so, dass es in Polen nicht auch eine »revisionistische« Schule der Beschäftigung mit dem Warschauer Aufstand gäbe. Sie hat immer wieder die Frage gestellt, ob die Opfer nicht »sinnlos« gewesen seien. Diese Argumentation gipfelt in der Behauptung, der Aufstand habe die Einrichtung der volksdemokratischen Ordnung objektiv sogar begünstigt, weil eine ganze Generation junger patriotisch-antikommunistischer Menschen gefehlt habe, die der »Sowjetisierung« Polens etwas hätte entgegensetzen können. Da streiten also zwei antikommunistische Positionen miteinander – eine Auseinandersetzung, die zunehmend zu rituellem Leerlauf geworden ist und keine neuen Argumente mehr liefert.

Oder doch? Die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita veröffentlichte jüngst einen Beitrag, der aufhorchen ließ: Habe nicht, fragte der Autor Michał Szułdrzyński, die eigentliche Heldenrolle ein Gremium gespielt, das in der patriotisch-heroischen Geschichtsbetrachtung des Mainstreams stets im leichten Geruch der Kollaboration stand? Gemeint ist der polnische »Hauptfürsorgerat«, eine von den Deutschen geduldete Hilfsorganisation, die die Hauptlast der Versorgung der aus Warschau vertriebenen Zivilisten getragen und so dazu beigetragen habe, die »biologische Substanz der Nation« zu bewahren.

Szułdrzyński argumentierte sehr vorsichtig, auf Grundlage der Aufzeichnungen seines Urgroßvaters, der diesen Hauptfürsorgerat einst geleitet hatte. Aber es ist immerhin ein neuer Ton, der das Leben und nicht den Heldentod in den Mittelpunkt stellt.

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