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Aus: Ausgabe vom 06.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Ukrainekrieg

Ausstiegsszenarios gesucht

Im kollektiven Westen schwindet der Glauben an die Möglichkeit eines ukrainischen Sieges. In den USA wird über Verhandlungen diskutiert
Von Reinhard Lauterbach
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Pokrowsk, 3. August: Nach einem russischen Artillerieangriff

Konrad Adenauer konnte noch sagen: »Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?« Im Zeitalter des Internets ist das nicht mehr so einfach. So kam vor ein paar Tagen ein bemerkenswerter Sinneswandel des gegenüber Russland konfrontativ eingestellten finnischen Staatspräsidenten Alexander Stubb ans Licht der digitalen Öffentlichkeit. Am 10. Mai – einen Tag nach dem russischen »Tag des Sieges« – hatte er auf X geschrieben, der Weg zum Sieg der Ukraine verlaufe über das Schlachtfeld. Keine drei Monate später, unter dem Datum des 29. Juli, rief er zu »baldigen Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland« auf. Da wollte jemand erkennbar wieder »vor die Welle« kommen.

Offensiver Ausweg

Zwei Beiträge in renommierten US-amerikanischen Fachzeitschriften zur Außenpolitik sprechen das Dilemma an, das die Zeitung Die Welt Ende Juli ebenfalls anonym in Brüssel aufgeschnappt haben wollte: Niemand, der sich bei der NATO mit der Ukraine beschäftige, glaube noch an die Möglichkeit eines ukrainischen Sieges. Nur traue sich niemand, es offen zu sagen. Das tat auch der zeitweilige Beamte der Planungsabteilung des US-Außenministeriums, Jakub Grygiel, nur durch die Blume, als er Ende Juli auf der Seite von Foreign Policy für einen offensiven Ausweg aus der Situation plädierte: Die Strategie des scheidenden Präsidenten Joseph Biden, die Unterstützung für die Ukraine nur stufenweise zu steigern, sei fehlgeschlagen. Wenn der gegenwärtige Abnutzungskrieg sich noch hinziehe, werde das mit dem Zusammenbruch der Ukraine enden und Russland die politische Dividende seines Sieges in die Hand geben. Sein Rezept, das zu verhindern: die Militärhilfe für die Ukraine nochmals drastisch zu erhöhen. Die USA hätten noch Hunderte von Panzern älterer Modelle in den Depots, ebenso stünden Hunderte von älteren Kampfjets herum, die die Ukraine dringend brauche. Ebenso wie die politische Erlaubnis, mit diesen Waffen auch Ziele weit im russischen Hinterland anzugreifen. Ein solcher »Schub« bei der Bewaffnung gebe der Ukraine die »letzte Chance«, Russland wenigstens auf die Grenzen vor Beginn des offenen Krieges zurückzudrängen. Dass das Gebiet der ehemaligen »Volksrepubliken« sowie die Krim für die Ukraine verloren seien, räumte aber auch der »liberale Falke« Grygiel ein. Ohne die Landbrücke zur Krim werde Russlands Position dort aber auf Dauer gefährdet sein durch ukrainische Angriffe mit Drohnen und Marschflugkörpern.

Eine Befriedung des Konflikts ist also ausdrücklich nicht Ziel des Foreign Policy-Autors. Das Problem dieser Eskalationsstrategie: Auch nach Grygiels Auflistung wird die westliche Munitionsindustrie erst um die Wende 2025/26 in der Lage sein, der Ukraine so viele Granaten zu liefern, dass sie sich eine Offensive leisten könne. War nicht im Ausgangspunkt von der Gefahr eines länger sich hinziehenden Abnutzungskrieges für die staatliche Existenz der Ukraine die Rede gewesen? Und hatte nicht Grygiel im Titel des Beitrags seine Eskalationsstrategie damit beworben, dass sie den Weg zu einem schnellen Ende des Krieges ebne? Beides steht aufgrund seiner eigenen Argumentation in Zweifel.

Rückkehr zu 2022

Eine zumindest taktische Gegenposition lieferte ebenfalls Ende Juli ein Beitrag des früheren US-Botschafters bei den Vereinten Nationen, Zalmay Khalilzad, auf der konservativen Plattform The National Interest: Er riet der künftigen US-Regierung dazu, sich jetzt bereits Gedanken zu machen, was sie Russland anbieten könne, damit sich dieses ebenfalls auf die Demarkationslinie von 2022 zurückziehe. Khalilzad ist, anders als Grygiel, der Auffassung, die Ukraine habe durchaus die Mittel, den Krieg gegen Russland noch eine Weile durchzustehen. Er argumentiert von der Seite der USA her: Sie selbst sollten aufhören, ihre Ressourcen in einen europäischen Krieg von zweitrangiger Bedeutung zu investieren, wenn auf der anderen Seite des Globus die Bedrohung von US-Interessen durch China wachse.

Was Khalilzad skizziert, ist im Grunde eine Rückkehr zu dem, was Russland und die Ukraine selbst schon im Frühjahr 2022 in der Türkei ausgehandelt hatten: einen Rückzug Russlands aus den seit 2022 eroberten Gebieten, im Gegenzug den Verzicht der Ukraine auf die gewaltsame Rückeroberung dieser Gebiete, die für zehn Jahre unter ein UN-Protektorat gestellt werden könnten, an dessen Ende ein international kontrolliertes Referendum die politischen Präferenzen der dortigen Bevölkerung ermitteln könnte. Khalilzad nennt im wesentlichen ein Argument, warum Russland an einer solchen Lösung interessiert sein könnte: das Moskauer Interesse, die Beziehungen zu den USA nicht völlig abbrechen zu lassen. Der letzte Gefangenenaustausch liefert ein Indiz dafür, dass diese Kalkulation nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Aber noch wird weiter geschossen.

Hintergrund: Krieg als Nebenbuhlerin

Das Wort für »Krieg« ist im Russischen wie im Ukrainischen grammatisch weiblich: »Wojna« bzw. »W ijna«. Der sprachhistorische Zufall macht sich aber auch ganz praktisch geltend. Ukrainerinnen, die nach einem Partner suchen, haben es in diesen Monaten schwer, den Richtigen zu finden. Sogar die New York Times griff das Thema am Wochenende auf: Der »Krieg erschüttert die Datingszene für ukrainische Frauen«.

An sich ist das nicht verwunderlich. Wenn nach zurückhaltenden Schätzungen inzwischen 300.000 Ukrainer gefallen sind und weitere Hunderttausende sich der drohenden Einberufung durch die Flucht ins Ausland entzogen haben, ist es mathematisch klar, dass Männer auf dem Partnerschaftsmarkt in der Ukraine knapp geworden sind. Die Zeitung aus New York zitierte eine Veranstalterin von Speed-Dating-Events in Kiew mit der Aussage, es kämen viel weniger Männer als sonst zu den Treffen in irgendwelchen Hipster-Bars. Die meisten Männer säßen jetzt zu Hause und fürchteten sich, auf dem Weg zum Date von der Straße weg zum Militär geschleppt zu werden.

Fast 500 Kilometer westlich von Kiew, in dem Städtchen Kowel, kam es vergangene Woche zu einer förmlichen Protestdemonstration vor der örtlichen Wehrersatzbehörde. Hunderte von Frauen verlangten die Freilassung von drei jungen Männern, die Mobilisierungsbeamte ohne Vorwarnung in die Kaserne geschafft hatten. Die Demonstrantinnen erreichten sogar ihr Ziel: Die Behörde ließ die drei nach einiger Zeit wieder frei. Die Filme im Internet über Zwischenfälle – aber auch spontanen Widerstand – gegen solche Einberufungen in Bussen, Bahnen und Geschäften häufen sich. »Verpisst euch«, ist noch das mindeste, was die Rekrutierungsbeamten von Angehörigen zu hören bekommen, und an jedem veröffentlichten Vorfall ist mindestens ein sympathisierender Passant beteiligt, der die ganze Szene aufnimmt und ins Netz stellt. Da gibt es Frauen, die den Militärbeamten ihre Handtaschen um die Ohren hauen, Dörfler, die die Fahrzeuge der Rekrutierungskommissionen blockieren, sogar Schüsse aus Jagdgewehren hat es schon gegeben. Der frühere Selenskij-Berater Olexij Arestowitsch hat dieser Tage in einem Interview mit der russischen Liberalen Julija Latynina erklärt, nach seinen Informationen versuchten täglich (!) 5.000 ukrainische Männer aus dem Land zu fliehen, um nicht zum Militär zu müssen. 200.000 haben seit Anfang Juli zumindest pro forma irgendein Studium aufgenommen, um zurückgestellt zu werden. Eine im Juli veröffentlichte Umfrage des renommierten Rasumkow-Instituts ergab, dass 46 Prozent der Befragten es für »nicht verwerflich« hielten, sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Bei den betroffenen Jahrgängen weit mehr als die Hälfte. (rl)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer Erich K. aus Potsdam (6. August 2024 um 09:46 Uhr)
    Ein Ausstiegsszenario, das vom »kollektiven Westen« für den provozierten und gewollten Krieg gesucht wird, kann es nur unter Anerkennung der legitimen Sicherheitsinteressen Russlands geben. Das war der wesentliche Inhalt der Initiative, die Russland im Dezember 2021 an den Westen gerichtet hat. Dieses Angebot, die Sicherheitsinteressen eines Landes dürfen nicht zulasten der Sicherheitsinteressen eines anderen Landes gehen, wurden vom Westen zurückgewiesen. Die Nato-Einkreisung Russlands sollte mit der Eingliederung der Ukraine nach dem Maidan-Putsch seine Vollendung finden. Wenn heute im Westen ein Ausstiegsszenario gesucht wird, dann wird dies nur unter Berücksichtigung der von Putin genannten Bedingungen funktionieren.
  • Leserbrief von Ronald Prang aus Berlin (6. August 2024 um 01:24 Uhr)
    Wer hat denn ernsthaft daran geglaubt, dass sich die Ukraine dem russischen Angriff dauerhaft entgegenstellen kann? Der z. Z. tobende Ukraine-Krieg ist doch, wie jeder weiß, ein klassischer Stellvertreterkrieg. Schon vor Monaten war mir klar, dieser Krieg kann vor der US-Wahl nicht beendet werden. So traurig es ist, so klar ist es auch: Auch nach dem Rückzug von Biden wird Trump die Wahl gewinnen. Eine seiner ersten Aktionen wird die Beendigung des Ukrainekriegs sein, dann ist er auch noch ein »Friedensengel«. Man denke nur an den Hitler-Stalin-Pakt von 1939, ganz sicher ist Putin nicht Stalin, auch wenn die dt. Medien uns das glauben machen wollen, aber Trump ist auch nicht Hitler, auch wenn er sich gelegentlich so aufführt. Aber Parallelen kann man doch finden, Putin wollte »seine Russen« schützen und Trump sieht in China seinen Kontrahenten. Trump und auch und ganz besonders die amerikanischen Militärs sind sich darüber im Klaren, dass die Ukraine die Atommacht Russland nicht besiegen kann. Putin ist nicht so dumm wie seine Gegner ihn gern hätten, er weiß, dass eine Auseinandersetzung mit der NATO den Untergang der Menschheit bedeutet, das weiß er mindestens seit 1983. Nach der Wahl in den USA wird der Ukraine-Krieg zu Ende sein, sogar dann, wenn Trump nicht gewinnt. Der Rechtsruck in Europa, besonders nach den Landtagswahlen in Deutschland macht mir persönlich mehr Angst, als die immer beschworenen Angst vor dem »bösen Russen, der seit 1945 vor der Tür steht«. Der ist bis 1990 nicht gekommen und wird auch jetzt nicht zu uns oder nach Polen oder ins Baltikum kommen. Die ältesten Märchen sind die schönsten, nur keins davon wird jemals Realität. Die Gleichsetzung von Freiheit mit Kapitalismus ist auch nur ein Märchen, aber man erzählt es immer noch. Wacht auf, Verdammte dieser Erde …, das alte Lied, immer noch aktuell.

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