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Aus: Ausgabe vom 06.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Der Pelzmantel im Hundekorb

In Alina Herbings »Tiere, vor denen man Angst haben muss« sind die Menschen angeleint
Von Ken Merten
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Tut bloß lieb

Vorher war der Mensch ein Tier. Damit hörte er irgendwann auf. Madeleine mag sich inmitten all der Viecher daheim so fühlen, als hätte man sie wieder in die Fauna eingegliedert. Die Ich-Erzählerin in Alina Herbings »Tiere, vor denen man Angst haben muss« lebt zusammen mit ihrer kleinen Schwester Ronja und ihrer Mutter im ostdeutschen Nichts der 90er und nuller. Letztere arbeitet in einer Auffangstation und ist sichtlich fürsorglicher gegenüber den Streunern und versehrten Wildtieren als zu ihren Kindern. Eins büchst schon zu Beginn aus: Madeleines Bruder Helge packt laut das Horst-Wessel-Lied hörend seine Siebensachen. »Die alte Platte war in einem so schlechten Zustand, der Text war kaum noch zu verstehen.« Als Provokation und Abgang mit Knall reicht das nichtsdestotrotz. Andere gehen leiser: Der Vater, wenig an seiner Familie interessiert, hatte da schon zurück nach Lübeck gemacht.

Madeleines Mutter hat sich nach der Schrottung der DDR einen spinnerten Traum erfüllt, ist mit der Familie von der alten Hansehauptstadt gen Osten aufs Land gezogen und sattelt stolz auf Trabant um, derweil die meisten auf der mecklenburgischen Fläche die Pappe längst nicht mehr fahren. Das Verlegen einer Trinkwasserleitung lässt sie sich von ihren relativ wohlhabenden Eltern aufdrängen, Strom nennt sie »Luxus«.

Mehr als nur Symbolpolitik: Antikapitalismus mit Primitivismus zu verwechseln heißt, nicht nur allgemein den Fehler zu machen, Sozialismus polpotianisch als gleich verteiltes Elend aufzufassen. Denn unter dem Mangel zivilisatorischer Mindeststandards leiden die heranwachsenden Töchter konkret. Ronja, bei der man manchmal ob ihrer Strebsamkeit den Eindruck gewinnt, sie wäre älter als Madeleine, isst zu wenig. Madeleine wiederum plagt die Kälte, die sie kaum zum Weichen bringt, indem sie unter anderem »den Inhalt der Kiste von der Parteiarbeit« ihres Vaters verfeuert. Der Vater, ein Bürohengst der Grünen, hatte sich damals in Madeleines Mutter verguckt, als die im Pelzmantel zur Parteigruppe stieß. Ihr aber wurde die Tierliebe wichtiger als Gatte und Mottenfiffi: »Ich glaub’, damit hat sie dann die Hundekörbe ausgelegt.«

Eine unkonventionelle Mutterfigur, von außerhalb der Familie für ihr Engagement bewundert, unermüdlich verwahrloste Hunde vor ihren noch verwahrlosteren Herrchen rettend und verletzte Vögel vom Straßenrand sammelnd. Derweil lässt sie ihre Kinder regelmäßig im Stich, sucht sich Arschlöcher als Partner und ist – bei allem platten Lob, dass sie für die DDR abspult – weit mehr verliebt in die postsozialistische Brache, auf der sie ihren calvinistischen Streichelzoo zum Unglück ihrer menschlichen Schutzbefohlenen verwirklichen kann.

Scheint für Ronja eine Flucht aus den Verhältnissen durch Erfolge in der Schule möglich, mag man Madeleine ihrer Ambivalenz und ihrem Widerwillen zum Trotz nicht wirklich zutrauen, dass sie sich von der Stelle wird lösen können, an der sie festgefroren ist. Einbrüche der Welt von außen, etwa durch den morgendlichen Radiowecker und jäh unterbrochene Tagträume von Robin Williams und den Backstreet Boys, scheinen eher zu unterstreichen, dass sie vor den alltäglichen Mühen und der Isolation des Landlebens selbst am Entkommen gehindert wird.

Nicht ohne Grund taucht auch eine Madeleine im Alina Herbings in den 2010ern spielenden Debütroman, »Niemand ist bei den Kälbern« (2017) auf. Wehrte sich dessen Hauptfigur, Jungbäuerin Christin, wenigstens noch gegen Umfeld und Zwangslage, indem sie ihren Partner betrog, online Kleider shoppte, sauren Apfel soff und sogar einen Anlauf nahm, in die Stadt umzusiedeln, sieht es für Madeleine in »Tiere, vor denen man Angst haben muss« fataler aus. Als sei sie angeleint.

Wie in anderen Romanen über den kahlgeschlagenen Osten, Lukas Rietzschels Romane »Mit der Faust in die Welt schlagen« (2018) und »Raumfahrer« (2021), verweisen sprachliche Kargheit und auf der Stelle drehender Plot so überdeutlich auf Trost- und Ausweglosigkeit, man kann nur kapitulieren und sich vom nächsten ungewaschenen Köter im Trabbi anknabbern lassen.

»Das desinfiziere ich dir zu Hause«, sagt die Mutter am Anfang von »Tiere, vor denen man Angst haben muss« nach eben so einem Biss. Viel mehr kann und muss man schließlich nicht tun: »Hundebisse darf man eh nicht nähen.«

Alina Herbing: Tiere, vor denen man Angst haben muss. Arche-Literatur-Verlag, Zürich 2024, 256 Seiten, 23 Euro

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