Sapere aude
Von Felix BartelsNicht nur der Mythos ist voller Mythen, auch die Mythenforschung. Die Antworten auf Fragen nach Ursprung, Inhalt und Funktion sind selbst nicht frei von Erzählung. Das Wort langt allerdings nicht hin, denn bei den Griechen gingen Mythos und Logos getrennt, während die deutsche Sprache von dieser Unterscheidung nichts weiß. Wissenschaft, dieses adoptierte Kind der Neuzeit, scheint immer etwas Bammel zu haben vor der arationalen Seite archaischer Erzählungen. Diese Leerstelle versucht sie mit Daten zu füllen – und reproduziert dabei, was sie gerade vermeiden will: neue Mythen.
Das geht mal gut, mal geht es nicht gut. Als Milman Parry 1928 im Handstreich die Homerische Frage löste, tat er das auf Basis empirischer Feldforschung. Seine Besuche bei den Guslaren auf dem Balkan und seine Statistik der Nomen-Epitheton-Formeln, aufgeschlüsselt als Bausteine mit metrischem Wert, haben den Nachweis eines oralen Charakters der schriftlich fixierten Dichtung ermöglicht. Und eine Schule begründet, die in ihrer Begeisterung für den neuen Ansatz ziemlich bald neue Chimären zuritt. Parry hatte die Forschung aus der von Friedrich August Wolf geschlagenen Sackgasse geführt, Parrys Schüler Albert Lord schlug einfach eine neue ins Mauerwerk. Die Homerischen Epen sollten nun nicht einmal mehr eine Scharnierfunktion zwischen oraler und schriftlicher Dichtung innehaben, sondern originäre Erzeugnisse rein oraler, performativ-improvisierter Dichtkunst sein. Vernunft arbeitet schneller als Wissenschaft, im besten Fall als deren dämpfende Kraft. Goethe und Schiller mussten sich nicht auf jede Einzelheit der Zerlegung der »Ilias« durch Wolf einlassen, als Poeten war ihnen klar, dass ein derart durchkomponiertes Kunstwerk nicht das Ergebnis nachträglicher, zufälliger Zusammenstellung sein kann. 1795 spotteten sie über den »Wolfschen Homer«: »Sieben Städte zankten sich drum, ihn geboren zu haben, / Nun, da der Wolf ihn zerriss, nehme sich jede ihr Stück.«
Hatte die Philologie bei der Überwindung der Homerischen Frage mehr als ein Jahrhundert gebraucht, benötigte sie beim »hard parryism« weniger. Gleichwohl arbeitet sie langsam, denn alles muss methodisch begründet sein und mit Nachweis ausgestattet. Schwer vorstellbar, dass sie anders funktionieren könnte, denn ein organisierter Betrieb hat den Sinn, Willkür und Beliebigkeit zu minimieren. So reinigt sie sich über Jahrzehnte hinweg in Geschwindigkeiten zwischen Schneckentempo und Krebsgang von ihren eigenen Irrtümern und kommt dann im Schweiße ihrer Revisionen auf Gipfeln an, wo die Hommes de lettres längst zelten. Wilamowitz zerstörte Nietzsches Karriere. Dessen »Geburt der Tragödie« ist bis heute prägend fürs Verständnis der griechischen Antike, während das Schaffen von Wilamowitz lediglich als Moment der philologischen Fachgeschichte von Interesse bleibt.
Rätsel Fabelwesen
Methoden können Fesseln werden. Gerade dort, wo Geist, Gesellschaft, Psychologie ins Spiel geraten. Ein jüngeres Beispiel zeigt sich in der Mythenforschung, allgemeiner in der Dominanz des Positivismus bei der Interpretation überlieferter Geschichten. Für Forscher, die ausschließlich erwägen, was sie auch präzise nachweisen können, scheint es ein unlösbares Rätsel, dass im erzählerischen Fundus aller archaischen Kulturen Fabelwesen vorkommen, für die es kein Vorbild in der (heutigen und damaligen) Natur gibt: Drachen, Einhörner, Seeungeheuer, Greife. In den neunziger Jahren stellte die US-amerikanische Althistorikerin Adrienne Mayor die These auf, dass Nomaden, die in Zentralasien nach Gold suchten, auf fossile Überreste eines Protoceratops gestoßen seien. Über Handelsrouten soll die Kunde von dem vierbeinigen Wesen mit Schnabel und flügelartigen Fortsätzen am Nackenschild dann in den mediterranen Raum gelangt sein, wo sie die Menschen zur Idee des Greifs inspirierte. Das Rätsel um die geflügelte Raubkatze mit dem Kopf eines Vogels schien gelöst.
Mark Witton und Richard Hing von der University of Portsmouth haben sich nun, mehr als ein Vierteljahrhundert später, Mayors These angenommen. Die Paläontologen werteten dabei historische Aufzeichnungen über Fossilien und Daten zur geographischen Verbreitung von Protoceratops-Fossilien aus. Keines von Mayors Argumenten zugunsten eines Zusammenhangs zwischen den Fossilien und der Greifmythologie hielt den Forschern zufolge stand. Das betreffe vor allem die Annahme, dass Nomaden die Überreste beim Goldschürfen fanden. Sämtliche bekannte Fundorte von Protoceratops-Knochen liegen Hunderte Kilometer von antiken Goldfund- und Schürfstellen entfernt, so Witton und Hing. Doch selbst davon abgesehen bleibe zweifelhaft, dass archaischen Gräbern die versteinerten Überreste als solche aufgefallen wären: »Im allgemeinen ist nur ein Bruchteil eines erodierten Dinosaurierskeletts mit bloßem Auge sichtbar, unbemerkt für alle, außer für scharfsichtige Fossilienjäger«, erklärt Witton. Die Nomaden hätten die Knochen aus dem Gestein lösen müssen, was selbst mittels moderner Werkzeuge schwierig sei.
Mit Sorgfalt wurde widerlegt, was ohnehin abwegig war. Bei all den Fragen nämlich, die Mayor gestellt hatte, stellte sie eine Frage nicht: Wieso es überhaupt eines natürlichen Vorbildes bedurft haben muss, damit Menschen auf die fabelhafte Idee eines Greifs kommen konnten. Als gehe es bei phantastischen Erzählungen, also Poesie, deren orale Protoformen Mythos und Märchen sind, um Abbildung des Gegebenen und nicht um Vergegenständlichung innerer und äußerer, nicht ohne weiteres greifbarer Verhältnisse. Mythos hat viele Quellen. Materialistische Theorie, von Ranke-Graves bis Hacks, sieht in den Erzählungen elementare politisch-gesellschaftliche Verhältnis ausgedrückt, so allgemein, dass Analogien zwischen verschiedenen Sagen- und Kulturkreisen gewissermaßen unvermeidlich sind. Narrative Zugriffe, etwa bei Propp (am Märchen), erklären Ähnlichkeiten aus universellen erzähl-logischen Gesetzen (also genre-ästhetisch). Strukturalismus entzieht sich der Empirie, indem er systemische Zusammenhänge unterhalb der Erscheinungswelt konstruiert und im realen Mythos rekonstruiert, wodurch zum Beispiel möglich wird, den in zahlreichen Kulturen präsenten Initiationsritus als Ausdruck universeller Opposition von Natur (roh) und Gesellschaft (gekocht) zu deuten. Der psychoanalytische Ansatz sucht nach universellen seelischen Mechanismen, weil die Beziehungen im Menschen und zwischen Menschen, aufs Elementare gebracht, überall ähnlich sind. Klassische Philologie, sofern sie nicht positivistisch arbeitet und spekulative Überlegungen zulässt, begreift mythische Erzählung als Bezeichnung »bedeutsamer, überindividueller, kollektiv wichtiger Wirklichkeit« (Walter Burkert). Alle diese Ansätze haben gemein, dass sie erstens von einer Ähnlichkeit elementarer menschlich-gesellschaftlicher Bedingungen ausgehen und zweitens die rigorose Forderung nach unmittelbarer direkt-empirischer Nachweisbarkeit ablehnen. Diese Forderung, wie gesagt, kann zur Fessel der Erkenntnis werden.
Mutloser Zugriff
Das grundlegende Problem des positivistischen Zugriffs wird deutlich. Es fehlt an Mut, sich seines Verstandes zu bedienen. Der Phantasie ohnehin. So einleuchtend zunächst klingt, nichts gelten zu lassen, das nicht belegt werden kann – wissenschaftlicher Fortschritt macht sich damit abhängig von der Überlieferungslage. Was insbesondere bei der Erforschung archaischer Verhältnisse verheerend wird, wo die Beweise stets dünn gesät liegen. Man muss nicht in der Erde buddeln, um erklären zu können, warum Menschen verschiedener Kulturen auf ähnliche fabelhafte Gestalten kommen konnten. Es reicht der Gedanke, dass sich in Erzählungen humane Erfahrungen (Furcht, Liebe, Neid, Geschwisterkampf etc.) ausdrücken oder sich in ihnen gesellschaftliche Wirklichkeit zusammenzieht, und zwar nicht als Abbild fasslicher Subjekte und Objekte aus der Lebenswelt der Erzählenden, sondern als Entwurf (oder Gegenentwurf), womit im Mythos sowohl eine Korrespondenz von Erzählung und Wirklichkeit als auch ein Verhältnis des Erzählenden zur Welt enthalten ist.
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