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Aus: Ausgabe vom 08.08.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Finanzierung der Schweizer Renten

Faule Prognose

Erst verrechnet, dann verschlechtert: Schweizer Behörden rechtfertigten eine Rentenalterserhöhung für Frauen mit falschen Zahlen
Von Jakob Roth, Bern
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Ein »Rechenfehler« von Regierung und Behörden hat besonders für Frauen in der Schweiz negative Konsequenzen

Ja, kann denn das Bürgertum nicht einmal mehr rechnen? Die Frage stellt sich aktuell in der Schweiz, nachdem die Behörden dort am Dienstag gravierende Fehler bei Voraussagen über die Stabilität der Renten gestanden hatten. Die Entwicklung der Finanzen des Rentensystems war um mehrere Milliarden Franken schlechter dargestellt worden, als sie real war. Mit den falschen Angaben hatte die Regierung auch eine Erhöhung des Rentenalters für Frauen gerechtfertigt.

Stéphane Rossini, Direktor des schweizerischen Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) erklärte der Presse, das BSV sei bei der Kontrolle seiner Berechnungsmodelle für die Entwicklung des Rentensystems auf »zwei fehlerhafte mathematische Formeln« gestoßen. Fehler zudem, die bereits seit Jahren begangen würden. Die falschen Berechnungen hätten zu »langfristig unplausiblen Werten« geführt, was die Höhe der Rentenausgaben angehe. In den Voraussagen bis 2033 verrechnete sich das BSV demnach um ganze vier Milliarden Franken (rund 4,26 Milliarden Euro).

Die Folge war ein Aufschrei. Die SP-Frauen, eine Untergliederung der sozialdemokratischen Partei, und der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) verlangten eine Rücknahme der Rentenalterserhöhung für Frauen, die vor zwei Jahren beschlossen worden war. Denn: 2022 hatte der Bundesrat eben diese Verschlechterung mit der prekären Finanzlage begründet. Wörtlich hieß es damals in einer vom BSV ausgearbeiteten Argumentation: »In den Jahren 2023 bis 2032 wird die AHV gemäß der aktuellen Finanzperspektive zusammengezählt rund 4,5 Milliarden Franken mehr ausgeben als sie insgesamt aus der Versicherungstätigkeit und aus Kapitalerträgen einnimmt.«

Mit diesen falschen Zahlen schaffte es die Regierung in der Folge knapp, eine Volksabstimmung über die Rentenverschlechterung zu gewinnen. 50,55 Prozent votierten im September 2022 für die Heraufsetzung des Rentenalters für Frauen von bisher 64 auf künftig 65 Jahre. Bemerkenswert bei den aktuellen Vorgängen ist auch, dass sich die fehlerhaften Angaben erneut nur auf einen Teil des Schweizer Rentensystems beziehen – die sogenannte AHV, Alters- und Hinterlassenenversicherung. Sie ist der einzige Bestandteil der Rente, der umlagefinanziert funktioniert. Die anderen sind kapitalgedeckt, spülen also Milliarden Franken in die Finanzmärkte.

Ein Alleinstellungsmerkmal der AHV ist, dass sie keine Obergrenze der Beiträge kennt, sehr wohl aber eine Deckelung der Auszahlungen. Dadurch zahlen Personen mit enorm hohen Einkommen deutlich mehr in die AHV ein, als sie später an AHV-Rente erhalten. Arbeiter und Angestellte werden hingegen von der AHV begünstigt. Nicht zuletzt deshalb ist die AHV beim Schweizer Kapital wenig beliebt, die Drohung mit ihrem finanziellen Kollaps entsprechend nicht neu. Sowohl Kapitalverbände wie auch Regierung versuchen seit Jahrzehnten, diesen sozialen Rentenbestandteil zu schleifen – scheitern aber meist an den in der Schweiz nötigen Volksabstimmungen.

Vor Jahren vom SGB veröffentlichte Beiträge dazu könnten heute fast wortgleich publiziert werden. Auf eine Kampagne der Schweizer Großbank UBS gegen die AHV erklärte der SGB bereits 2017: »Die Angstmacherei läuft immer nach demselben Muster: Die UBS schwingt die Demographiekeule und bläut den potentiellen Kunden ein, dass die AHV nicht mehr zu finanzieren sei. Kein Wort davon, dass die AHV heute im Vergleich zu 1975 die Anzahl ausbezahlter Renten von 900.000 auf 2,2 Millionen mehr als verdoppelt hat, die Lohnbeiträge dafür aber nie erhöhen musste. Kein Wort davon, dass alle Studien der letzten 30 Jahre, die der AHV desaströse Finanzlöcher voraussagten, nie eingetroffen sind.«

Ob es angesichts der neuen Fakten zu einer Rücknahme der Rentenverschlechterung für Frauen kommt, ist noch unklar. Ein Novum wäre es nicht: Eine Abstimmung im Jahr 2016 wurde nachträglich vom schweizerischen Bundesgericht für ungültig erklärt, nachdem die Regierung zuvor drastisch falsche Zahlen genutzt hatte. Ebenso oft blieben die Fehler aber ungestraft. Eine 2009 eingeführte Steuererleichterung für Konzerne besteht etwa bis heute, obwohl sie etliche Milliarden mehr kostete, als es der Bundesrat den Bürgern versprach.

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