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Aus: Ausgabe vom 10.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Venezuela

Das kleinere Übel

Maduro dankt Wahlsieg vor allem dem rigorosen Privatisierungsprogramm der Opposition
Von Volker Hermsdorf
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Ohnehin vom Sieg überzeugt: Anhänger Maduros (Caracas, 30.6.2024)

Der große Streit um die Zahlen. Berichte über die Präsidentschaftswahl in Venezuela konzentrieren sich dieser Tage vor allem darauf, wer den sowohl von Amts­inhaber Nicolás Maduro als auch von dessen Herausforderer Edmundo González für sich reklamierten Sieg glaubhafter belegen kann. Dabei ist erkennbar, dass der Kampf um die Macht im ölreichsten Land der Welt unabhängig von dieser Frage weitergeführt wird. Einiges spricht dafür, dass das Maduro-Lager auch von Kritikern der Regierung gewählt wurde und am 28. Juli tatsächlich noch einmal eine Mehrheit auf sich vereinen konnte. Der Wahlbehörde CNE zufolge siegte der amtierende Präsident mit 51,95 Prozent vor seinem Kontrahenten, der 43,18 auf sich bringen konnte. Die im Oktober 2023 formulierten Pläne des zweitplazierten Bewerbers könnten bei unentschlossenen Wählern einen Ausschlag pro Maduro gegeben haben. Hier stimmte wohl vor allem die Sorge um den Arbeitsplatz, um soziale Leistungen und Renten sowie um mögliche außenpolitische Folgen eines Regierungswechsels mit.

Handschrift Machados

»Die Ursache für die Niederlage der Opposition liegt nicht in dem System, das sie registriert, sondern in dem Programm, das sie vorschlägt«, vermutete der über Venezuela hinaus in Lateinamerika bekannte Schriftsteller, Wirtschaftswissenschaftler und Jurist Luis Britto García in einer Stellungnahme nach der Wahl. Der Historiker hatte den 85 Seiten langen – in englischer Sprache verfassten – »Regierungsplan« der von Edmundo González und María Corina Machado angeführten Plataforma Unitaria übersetzt. Der Plan trägt die Handschrift der deutlich radikaleren, wegen Steuerhinterziehung allerdings nicht als Kandidatin bei der Wahl zugelassenen Machado, für die González nach Ansicht vieler Beobachter lediglich als Strohmann fungiert. Knapp zwei Wochen vor dem Wahltag veröffentlichte Radio del Sur, was die rechte Opposition im Falle ihres Sieges im Land umsetzen will.

In ihr Programm gehört vor allem die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und der venezolanischen Ölindustrie, die internationalen und nationalen Privatunternehmen dann ausgeliefert wäre. Was man in den Vereinigten Staaten von Amerika selbstredend gern sähe. »Mit anderen Worten, es ist die Übergabe unseres fundamentalen Reichtums an ausländisches Kapital«, so Britto García. Hinzu komme eine Privatisierung im Dienstleistungssektor und von Vermögenswerten des Landes. Venezuela habe in der Vergangenheit schlechte Erfahrung mit dieser Art der Veräußerung gemacht. »Jeder, der mit einem staatlichen Unternehmen, einem öffentlichen Unternehmen oder dem öffentlichen Dienst zu tun hat, muss sich darauf einstellen, dass so etwas zu massiven Entlassungen führt«, warnt Britto. Das Regierungsprogramm von González/Machado enthält des weiteren Pläne zur Privatisierung der Rentenkasse sowie des Bildungs- und Gesundheitssystems. Mit der Begründung, dass das traditionelle Sozialversicherungssystem nicht tragfähig sei, plant die Opposition individuell finanzierte Rentenmodelle, »wie sie bereits in Chile bestehen und die dort heute teilweise bis zu 40 Prozent des Einkommens verschlingen«. Vieles davon entspreche eins zu eins dem neoliberalen Wirtschaftsprogramm des Internationalen Währungsfonds (IWF). Darüber hinaus planten die Rechten eine »Reform« der Verteidigung des Landes, die sie in ein »hemisphärisches Sicherheitskonzept« integrieren wollen. Das bedeute im Klartext nichts anderes als eine Unterordnung des venezolanischen Militärs, der Verteidigungs- und Sicherheitsorgane, unter das Südkommando der US-Streitkräfte (Southern Command), so der Historiker.

Abwägen der Risiken

Ein derartiges Schockprogramm, das an die brutalen Konzepte des argentinischen Machthabers Javier Milei erinnert, dürfte zahlreiche Wähler abgeschreckt haben, die ansonsten nicht unbedingt mit Maduro sympathisieren. Millionen Menschen arbeiten in Venezuelas öffentlichem Dienst und in staatlichen Unternehmen. Ebenso viele beziehen – oft allerdings sehr magere – Renten oder profitieren vom mehr schlecht als recht funktionierenden CLAP-Programm zur Verteilung subventionierter Lebensmittel an die einkommensschwache Bevölkerung. Trotz aller Kritik an den Zuständen im Land unter Maduro glauben viele Menschen nicht daran, dass mit einem Wahlsieg der Rechten goldene Zeiten für sie anbrechen würden – entgegen der Argumentation Machados, dass die USA im Fall ihres Wahlsiegs ihre grausamen Sanktionen einstellen würden. Denn die damit einhergehende Aufgabe der Souveränität des Landes wird zum Teil auch von konservativen Wählern abgelehnt. Die Chávisten wussten das zu nutzen und verwiesen immer wieder darauf, dass Machado in der Vergangenheit wiederholt schärfere Sanktionen und eine militärische Invasion der USA in Venezuela gefordert hatte.

In Abwägung der Risiken dürften deshalb auch linke Kritiker, die selbst gegen autoritäre Züge des Maduro-Regimes protestiert hatten, mit knirschenden Zähnen für den Amtsinhaber gestimmt haben. Die Abwehr des US-finanzierten Putsches und einer drohenden ausländischen Aggression veranlasste viele zum Schulterschluss mit einem System, das sich immer mehr von den Zielen des Anführers der Bolivarischen Revolution, Hugo Chávez, entfernt. Auch wenn die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) der Maduro-Regierung, ebenso wie auch andere oppositionelle Organisationen, zu Recht Verrat an den »Interessen der venezolanischen Arbeiterklasse« und »einen grotesken Wahlbetrug« vorwerfen.

Hintergrund: Offener Verdacht

Ein etwas gebrechlicher, doch freundlicher alter Herr: Westliche Medien präsentieren Edmundo González als Wahlsieger, der von einem Schurken gehindert werde, das ihm zustehendes Amt anzutreten. In der Vergangenheit aber scheint González sich alles andere als freundlich verhalten zu haben.

Verständlicherweise wehrt er sich gegen die Vorwürfe. Anhänger der rechten Opposition und selbsternannte Faktenchecker bezeichnen sie als Fake News. Die Zweifel konnten nicht vollständig ausgeräumt werden. Nach einem Bericht des Senders Telesur vom 13. Juli hat der ehemalige Diplomat während seiner Zeit in El Salvador in den 1980er Jahren eine fragwürdige Rolle gespielt. Dort war er enger Mitarbeiter des damaligen venezolanischen Botschafters in San Salvador, Leopoldo Castillo. Ein Zeitzeuge, der ehemalige FMLN-Führer Sigfrido Reyes, wirft González vor, »für Verbrechen gegen die Menschheit, die an unschuldigen und wehrlosen Opfern begangen wurden, mitverantwortlich« zu sein.

»Castillo und González waren Agenten des Todes. Im Februar 2009 freigegebene CIA-Dokumente nennen Castillo als Mitverantwortlichen für die Geheimdienste, die die ›Operation Centauro‹ koordinierten, finanzierten und den Befehl zur Durchführung erteilten«, berichtete das Portal Cubadebate am 30. Juli. Unter dem im selben Jahr von der venezolanischen Generalstaatsanwaltschaft wegen Mordes und Folter angeklagten und per Interpol-Haftbefehl gesuchtem Präsidenten Carlos Andrés Pérez (1989–1993) machte González dann unter anderem als Botschafter in Algerien Karriere. Das Portal Infodemia bestreitet die Vorwürfe, belegt dies aber vor allem mit Berichten aus dem Jahr 1993, die 16 Jahre vor Freigabe der CIA-Dokumente erstellt wurden. (vh)

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