Lichte Höhen, steile Pfade
Von Holger WendtDie Ökonomie ist eine durchwachsene Wissenschaft. Wo Wirtschaftswissenschaftler nicht als Fachleute die Interessen von Banken und Großkonzernen verwalten, erscheinen sie als Lobbyisten in Parteien, Verbänden und Thinktanks oder verbreiten in Presse und Talkshows liberale Dutzendweisheiten. Fachkompetenz hingegen ist dünn gesät – eine Tatsache, die sich anlässlich der letzten Finanzkrise bis ins bürgerliche Feuilleton herumgesprochen hat.
Es gibt Ausnahmen, Klaus Müller gehört dazu. Geboren vor 80 Jahren, am 10. August 1944, im erzgebirgischen Ursprung, wurde er 1973 an der Hochschule für Ökonomie in Berlin promoviert und habilitierte sich 1979 in Halle-Wittenberg. Seit 1984 Professor an der TH Karl-Marx-Stadt, beschäftigte er sich unter anderem mit Geld- und Verteilungsfragen sowie mit der Geschichte der politischen Ökonomie.
Es hätte eine gesicherte Lebensstellung sein können, doch der Weltgeist entschied anders. Das Ende der DDR bedeutete auch für Müller eine Zäsur. 1991 verlor er seine ordentliche Professur, wurde wie so viele seiner Kollegen als ideologisch belastet aussortiert und durch westdeutsche »Experten« ersetzt.
Die Zeit nach der »Wende« war schwierig; Müller verdingte sich zunächst freiberuflich, kehrte 1997 als externer Dozent für Rechnungswesen an seine nunmehr in TU Chemnitz umgetaufte Universität zurück. In den Jahren 2000 bis 2009 leitet er den Studiengang »Mittelständische Wirtschaft« an der Staatlichen Studienakademie Glauchau. Von Ruhestand kann seitdem keine Rede sein. Er veröffentlichte mehr denn je, die Zahl seiner wissenschaftlichen Arbeiten beläuft sich auf etwa 400. Neben Fachbüchern publizierte er eine Vielzahl von Aufsätzen, auch und gerade in explizit linken Medien wie junge Welt, Marxistische Blätter, Z oder Neues Deutschland.
Zu den langjährigen Schwerpunkten von Müllers Forschung zählt die Geldtheorie. Er hält an den Grundsätzen des Marxschen »Kapital«, insbesondere an der Wertformanalyse, fest. Dabei vermeidet er zwei komplementäre Fehler, derer sich andere marxistische Autoren regelmäßig schuldig machen: Weder sieht er Marx’ Darstellung der Entwicklung der Geldware Gold als das letzte Wort der ökonomischen Wissenschaften an, noch betrachtet er das »Kapital« als in diesem Punkt durch Papier-, Buch- und Digitalgeld überholt. Vielmehr fasst Müller die marxschen Ausführungen als unverzichtbaren Schritt zum Verständnis unseres Geldsystems. In seinem 2015 erschienenen Band »Geld. Von den Anfängen bis heute« schrieb er: »Es ist eine Verkennung des Problems, wenn den Vertretern der Geldwarentheorie vorgeworfen wird, ihre Konzeption laufe auf eine Rehabilitierung der vorkapitalistischen Metallzirkulation hinaus. Im Gegenteil: Gerade die Geldwarentheorie versteht die Entstehung und Zirkulation von Ersatzgeldzeichen nicht als Störung, Missbrauch oder Entartung des Geldwesens, sondern als eine historische Konsequenz des (…) Wirkens ökonomischer Gesetze. Anerkennung und Verständnis der Geldwarentheorie bedeuten nicht, die Geldware in den Zirkulationsprozess zurückzubeordern, sondern sie ermöglichen, das Geld als Einheit von Geldware und Geldzeichen theoretisch widerspruchsfrei darzustellen. Ihr historisch-logischer Zusammenhang zeigt, dass Geldstellvertreter Abkömmlinge und nicht Konkurrenten der Geldware sind.« Von diesem Standpunkt aus gelingt es ihm, Marx’ Ansatz der Gelderklärung weiterzuentwickeln, ihn bruchlos auf die Höhe der modernsten Erscheinungen der Geldmärkte zu bringen.
Ob in der Geldtheorie oder in anderen Fragen der Wirtschaftswissenschaft, Müllers Arbeiten sind gekennzeichnet durch Bestimmtheit im Inhalt und Fairness in der Form. Er nimmt gegnerische Argumente ernst, prüft ihre Meriten, setzt sich mit marxistischen und bürgerlichen Theoretikern gleichermaßen fundiert auseinander. Auf diese Weise gewinnt er eine selten anzutreffende wissenschaftliche Breite. An seiner konsequent humanistischen Perspektive ändert dies nichts. Seine jüngste Veröffentlichung, der Band »Ausbeutung« in der Reihe »Basiswissen« des Papy-Rossa-Verlages, schließt mit den Sätzen: »Die Menschheit muss ausbrechen aus dem profitgetriebenen, kriegerischen, die Umwelt zerstörenden Ausbeutersystem und den Weg finden zu Frieden, Gerechtigkeit, Menschlichkeit und zur Bewahrung der Natur. Sie muss die alte Welt Heinrich Heines zerbrechen und sie ersetzen durch eine, wo jeder mit Goethe sagen kann: ›Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!‹«
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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