75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 19. September 2024, Nr. 219
Die junge Welt wird von 2939 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 10.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Auf sympathische Art heimtückisch

Die Aphorismen sprudeln noch einmal: Letztes aus Ambrose Bierces versiegbarem Nachlass
Von Peter Köhler
11.jpg
»Bekannter: Jemand, den wir gut genug kennen, um ihn anzupumpen, aber nicht gut genug, um ihm etwas zu leihen« – Ambrose Bierce

Wo ist Ambrose Bierce? Wo ist Markus Bomert, sein Übersetzer? Beide sind verschwunden, der weltbekannte Amerikaner bereits vor über 100 Jahren, als er sich, um seinem leerlaufenden Dasein neue Nahrung zu geben, auf den Weg ins revolutionär geschüttelte Mexiko machte und irgendwo vom Erdboden verschluckt wurde. 2018 kam Markus Bomert und behauptete, im tiefsten Grand Canyon Bierces Leichnam entdeckt zu haben, in den Taschen unversehrte Fortschreibungen des berühmten »Wörterbuchs des Teufels«. Bomert arbeitete fortan an der deutschen Übersetzung, ohne aber jemals die nackten Originale vorzuweisen (die junge Welt berichtete).

Der seit kurzem pensionierte Anglist, der an der Universität Weinheim mehr oder weniger gearbeitet hatte, wollte sich in die kriegsgeschüttelte Ostukraine begeben, um seinem leerlaufenden Rentnerleben neue Nahrung zu geben. Irgendwo in der Slowakei verliert sich seine Spur. »Vielleicht wird jemand in 100 Jahren in einer tiefen Schlucht der Hohen Tatra über seinen Leichnam stolpern, und in den Hosentaschen stecken lauter Übersetzungen unbekannter Bierce-Definitionen!« hofft seine Nichte Emma Bomert, die als echte und studierte Anglistin ihrem echten und studierten Onkel nachgefolgt ist.

»Bis dahin müssen wir uns an den Übersetzungen festhalten, die ich auf kleinen Zetteln verstreut in seiner kleinen Wohnung gefunden habe. Es sind manchmal etwas altklug aussehende Definitionen. Etwa das hier: ›Aasgeier: Ein Lebewesen, das tote Tiere isst. Es ist hässlich, besonders sein Kopf. Es hat zwei Beine und tritt fast immer in Gesellschaft auf.‹«

Wir verziehen mühsam eine Miene, und die Nichte springt für ihren vegetarisch denkenden Onkel sauber in die Bresche: »Markus war halt kein Geier. Er war ein Einzelgänger, tief im eigenen Kopf sogar mit Sinn für Selbstironie. Warten Sie … hier: ›Eremit: Der einzige, der die Einsamkeit stört.‹« Nachdenklich bis in die Zehenspitzen seufzt Bomerts Nachlassverwalterin.

Viele Menschen sacken im Alter in eine Resignation hinein. Sie entwickeln Zweifel am Nutzen ihres weiter abzuleiernden Lebens, beginnen als zottelige Rentner sogar am Sinn ihres einst geliebten Berufs stutzig zu werden. »Auch der Anglist Bomert scheint manchmal seine Vergangenheit abstreifen zu wollen«, berichtet die Anglistin Bomert und liest von einem Zettel ab: »›Englisch: Ein pandemisch sich verbreitender Sprachfehler. Gegenüber dem bloßen Lispeln genießt er den weiteren Vorzug einer tuntigen Betonung.‹«

Wir geben uns betunt, pardon: betont schockiert von dieser müffelnden, angeschimmelten Haltung, werfen aber ein, dass viele Menschen ab einem gewissen Alter die neuen, fleckenrein gemachten Zeiten nicht mehr blitzblank verstehen. »Apropos Schock!«, ruft Emma Bomert. »Als Frau trifft es mich auch immer wieder. Hier, hören Sie! ›Georg, heiliger: Der Schutzpatron des Ehemanns. Er tötete den Drachen.‹ Dabei war er ewig und drei Tage Junggeselle!«

Sie habe ihren Onkel als jemand gekannt, der eigentlich nie ein böses Wort ausspuckte, legt sie nichtsdestoweniger ein gutes Wort für ihn ein. »Aber«, fährt sie fort, »im Fahrwasser von Ambrose Bierce drehte er auf, wie ich nun weiß. Zitat! ›Auschwitz: Der Beweis, dass sechs Millionen Ermordete kein Grund sind, mit dem Gedichteschreiben aufzuhören.‹«

Unserem Einwand, dass das keinesfalls von Bierce stammen könne, gibt Bomerts Erbin ohne Umschweife statt: »So nicht, da haben Sie eiskalt recht. Ebenso hier, ich zitiere: ›Fax: Die Möglichkeit, fremdes Papier vollzukritzeln.‹ Statt Fax stand bei Bierce bestimmt irgendwas Staubiges aus dem vorvorigen Jahrhundert, vielleicht Telegramm oder so«, wagt sich die Nichte ins Blaue hinein: »Mein Onkel modelte eben die im Lauf von 100 und mehr schnellen Jahren unverständlich gewordenen Definitionen für das 21. Jahrhundert zurecht, damit sie nicht zu Asche zerfallen.« Das bewiesen nicht zuletzt die originalen englischen Texte, die man irgendwann in Bomerts Nachlass bestimmt finden werde, ergänzt die Nichte bestimmt.

Wir kratzen uns nachdenklich dort, wo wir unseren Kopf vermuten. Emma Bomert steht folgerichtig auf, erklärt, sie habe noch viel zu tun und den Nachlass zu ordnen, und komplimentiert uns hinaus. Nicht anders als zuvor ihr lebender Onkel drückt sie uns ein paar Blätter in die Hand. Wer nicht wissen will, was darauf steht, liest ab hier besser nicht weiter:

Abschreckung: Ein Mittel, um einen Angeklagten auch für jene Verbrechen zu bestrafen, die andere Leute noch nicht begangen haben. Ein strafverschärfender Umstand, den nicht der Täter, sondern der Richter verschuldet. – Schon Wochen vor der Hinrichtung des gescheiterten Königsattentäters Robert François Damiens in Paris 1757 waren die Fenster um den Place de Grève, wo die Exekution stattfinden sollte, zu Höchstpreisen vermietet, und Casanova, der unter den Zuschauern auf dem Platz weilte, berichtet in seinen Memoiren, dass, während die Schaulustigen Damiens’ Folterung und Vierteilung verfolgten, sich einer seiner Freunde einer Frau von hinten näherte und in sie eindrang. Abschreckende Folge: Die Dame wurde schwanger.

Arbeit: Frei nach Ambrose Bierce das, was dem Aktionär Haus, Kleidung und Nahrung liefert; der Teil, den der Aktionär beiträgt, ist die Lobrede auf die freie Marktwirtschaft.

Astrologie: Obwohl von der rationalen Wissenschaft abgelehnt, hält sich die Astrologie bis heute. Deshalb ist kein Zweifel möglich: Es gibt sie wirklich.

Demokratie: Die Freiheit, kaufen und verkaufen zu können, was man will.

Entführung: Commissario Brunetti, der Held in Donna Leons Venedig-Krimis, hat Entführung »schon immer als das scheußlichste aller Verbrechen angesehen, nicht nur, weil er selber zwei Kinder hatte, sondern weil es eine Schande war, wenn ein willkürlicher Preis auf ein Leben gesetzt wurde«. Es fehlt eine solide betriebswirtschaftliche Grundlage.

Erde: Der Spieltisch der Global Player.

Erziehung: Der Versuch, die Fehler der Natur auszuräumen, um Platz für die Laster der Zivilisation zu schaffen.

frei: Gezwungen, Fehlentscheidungen selber treffen zu müssen.

Geizkragen: Jemand, der mir nicht gibt, was ihm gehört.

Gerichtssaal: Eine gefährliche Gegend, in der Juristen gedeihen und andere Lebensformen zugrunde gerichtet werden.

Hightech: Die Technik von heute, die schon morgen von gestern ist.

interaktiv: Begriff für die Kommunikation zwischen einer Maschine, der der Mensch angepasst ist, und einem Menschen, der der Maschine angepasst ist.

Kandidat: Ein Politiker, der sich noch in der Inkubationsphase befindet.

Kommunikationsfähigkeit:­ Die Untugend von Werbefachleuten und Bettlern, fremde Leute anzusprechen.

liberal: Bereit, außer der eigenen Meinung auch falsche gelten zu lassen.

Menschenrechte: Internationaler Handelsartikel, zu dessen Abnahme die anderen verpflichtet sind.

naiv: Zugänglich für die Argumente der Gegenseite. Jemand, der deinen Argumenten zugänglich ist, nennt man vernünftig.

normal: Verrückt wie alle.

Parteispende: Eine Gabe, die sich von einer Bestechung dadurch unterscheidet, dass es sich um eine Parteispende handelt.

Philologie: Esoterische Geheimlehre, mit deren Hilfe sich in scheinbar normalen Texten verborgene Botschaften entschlüsseln lassen.

raffiniert: Auf sympathische Art heimtückisch.

Rechtsanwalt: Jemand, der die Gerechtigkeit im Munde und die Finger in die Taschen seines Mandanten führt.

rechtschaffen: Anders.

Roboter: Eine Maschine ohne Bewusstsein, geschaffen nach dem Ebenbild des Menschen.

Scharia: Vom Allmächtigen eingesetztes Rechtssystem, das die Fehler seiner Schöpfung korrigiert, die Fehlenden mit Auspeitschung, Amputation und Steinigung bestraft und ihm selbst Immunität gewährt.

Schurke: Der Pragmatiker im Stadium der Vollendung.

Soldat: Jemand, der niemanden tötet. Soldaten sind keine Mörder.

Standardisierung: Die Vereinheitlichung von Produkten, Verfahrensweisen und Maschinen ähnlich dem Menschen.

Subjektivität: Die fehlerhafte Sichtweise der anderen. Der Gegensatz heißt Objektivität – jene Sichtweise, die sich mit der eigenen deckt.

Tod: Der letzte Akt in einem schlechten Stück, in dem eine Charge glaubte, sie spiele die Hauptrolle.

Umverteilung: »Es gibt immer weniger zu verteilen«, klagen Politiker. Zu Recht, die unten haben ja kaum noch etwas.

umweltfreundlich: Nicht ganz so umweltschädlich.

Ungerechtigkeit: Jene Empfindung, die sich beim Individuum einstellt, wenn die Gerechtigkeit sich ihm zuwendet.

Unterhaltungsschriftsteller: Autor, der einfache Sätze zu Papier bringt, damit er versteht, was er schreibt.

Urteil: Das Ende eines Unrechts und der Beginn eines neuen.

verfrüht: Geschickte Formulierung, wenn die Zuhörer »wünschenswert« hören wollen, man selbst aber »niemals« meint.

Zeit: Jener unbestechliche Faktor, der aus Jugend Alter, aus Gewinn Verlust und aus einem Freund einen Feind macht.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Mehr aus: Feuilleton