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Aus: Ausgabe vom 14.08.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Finanzplanung in Polen

Keine Zeit für Ehrenworte

Die polnische Regierung macht sich daran, sozialpolitische Versprechungen aus dem Wahlkampf zu vergessen oder zurückzunehmen
Von Reinhard Lauterbach
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Zettel rein, alles weg: Vor seinem Amtsantritt hatte Donald Tusk noch Entlastungen zugesagt

Im Wahlkampf hatte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk so manches versprochen: einen Steuergrundfreibetrag von 60.000 Złoty (14.000 Euro), pauschale Gehaltserhöhungen von 30 Prozent für Lehrer und 20 Prozent für den restlichen öffentlichen Dienst, die Beibehaltung aller von der rechten Vorgängerregierung eingeführten Sozialleistungen sowie des Kindergelds von umgerechnet 200 Euro pro Kind – und dergleichen mehr.

Neun Monate nach Amtsantritt der Regierung rudert das Kabinett an allen Fronten, mindestens zurück. Der öffentliche Dienst ist unzufrieden, weil eine pauschale Gehaltserhöhung um sieben Prozent durch eine Mindestlohnerhöhung um zwölf Prozent aufgefressen wurde. Der Anteil von Beschäftigten im Sektor, die praktisch zum Mindestlohn arbeiten, ist unter dem Strich sogar noch gestiegen. Das passt zumindest dem Distinktionsbedürfnis der kleinen und mittleren Beamten gar nicht: Für Herbst sind Proteste angekündigt.

Das Kindergeld soll zwar nicht gestrichen, aber auch nicht mehr an die Inflation angepasst werden. Das zusätzliche »Omageld« von 800 Złoty, das die Betreuung von Kindern durch ihre Großmütter wenigstens symbolisch honorieren soll, wird nur noch gezahlt, wenn Eltern auch einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen. Infrastruktur für Kinderbetreuung ist in Polen außerhalb der Großstädte aber sehr lückenhaft und in Großstädten sehr teuer. Auch das Kindergeld soll daran geknüpft werden, dass die Kinder der Schulpflicht nachkommen.

Das geht gegen die gut 200.000 Kinder und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter aus der Ukraine, denen die Leistung nach Kriegsbeginn pauschal zugestanden wurde: Etwa ein Drittel dieser Kinder folgt entweder online dem ukrainischen Schulunterricht oder hat sich aus dem Lernen ganz ausgeklinkt. Die Gründe sind vielfältig. Bis heute hängt die Integration der Neuankömmlinge weitgehend vom guten Willen und Organisationstalent der Schulleitungen ab. Um Platz für ukrainische Kinder in polnischen Schulen zu schaffen, werden die Klassenstärken nun von 25 auf 29 Schüler erhöht. Denkbar, was das für die Qualität des Unterrichts bedeutet. Beschwerden der Lehrer über ihre schlechte Bezahlung kontert die Regierung mit dem Hinweis, sie könnten Überstunden machen. In Polen sind etwa 20.000 Lehrerstellen unbesetzt.

Die Ministerin für Regionalentwicklung, Katarzyna Pełczyńska-Nałęcz von der rechtsliberalen Bewegung »Polen 2050«, machte vor einigen Tagen eine Büchse der Pandora auf. Sie schließe nicht aus, dass die Regierung das Renteneintrittsalter werde anheben müssen, erklärte sie in einem Interview. Die PiS hatte es in ihrer Amtszeit auf 65 für Männer und 60 für Frauen gesenkt. Parallel dazu bringen die sogenannten Qualitätsmedien eine Analyse nach der anderen über den »Weg in die Finanzkatastrophe« (so die Gazeta Wyborcza am 6. August), die die Regierung durch Sparmaßnahmen abwenden müsse, oder den Aufmacher der Rzecz­pospolita vom 9. August: »Wir müssen alle länger arbeiten.«

Die Argumente sind die im neoliberalen Diskurs üblichen: die rückläufige Bevölkerungsentwicklung, die »Überalterung der Gesellschaft«, der Mangel an Arbeitskräften – weil der Krieg den Zustrom ukrainischer Männer auf den polnischen Arbeitsmarkt abgedreht hat. Außerdem »Skandale«: Laut Rzeczpospolita machten Rentner nur 20 Prozent der Bevölkerung aus, verursachten aber 35 Prozent aller Kosten im Gesundheitswesen. Einstweilen versucht die Regierung, das konfliktträchtige Thema einer Erhöhung des Rentenalters dadurch zu umgehen, dass sie die »jüngeren« Rentner animiert, neben ihrer Rente – oder noch besser an ihrer Stelle – weiterzuarbeiten.

Den Grund der Finanzprobleme aber beseitigt sie nicht: ihre ehrgeizigen Rüstungsausgaben. Allein seit Anfang dieser Woche wurden mit US-Rüstungskonzernen Verträge über 48 »Patriot«-Raketenwerfer und ebensoviele Kampfhubschrauber vom Typ »Apache« unterzeichnet. In den nächsten zehn Jahren plant die Tusk-Regierung weitere Rüstungsausgaben von über 500 Milliarden Złoty (116 Milliarden Euro). Bezahlen sollen das die üblichen Verdächtigen: abhängige Beschäftigte und Rentner. Für Unternehmer und Freiberufler sollen dagegen die Sozialversicherungsbeiträge gesenkt werden.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (14. August 2024 um 09:23 Uhr)
    Das hätte eine PiS-Regierung auch nicht schlechter gemacht... die erfolgreichen wirtschaftlichen Jahre Polens gehen auch dort zu Ende. Wer derart massiv in unproduktive Bereiche investiert, verliert am Ende. Zumal die Rüstungsprojekte um die polnische Industrie einen ziemlich großen Bogen machen.

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