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Aus: Ausgabe vom 16.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Tote der Hauptstadtjustiz

Inferno hinter Gittern

Berlin: Mehr als hundert Zellenbrände in Haftanstalten. Brandschutz kaum vorhanden – dafür Kameras für Knastparkplätze
Von Annuschka Eckhardt
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Fünf Tote und viele Verletzte bei Bränden in Berliner Haftanstalten

Stechender Rauch, Gestank von verbranntem Plastik, verzweifelte Schreie – in Berliner Justizvollzugsanstalten hat es 107 Zellenbrände seit 2012 gegeben. Fünf Menschen starben in den Flammen. »Brandschutz gibt es in den Haftanstalten faktisch nicht«, sagte Marc M., Gefangener in der JVA Tegel, am Dienstag im jW-Gespräch. Es gebe keinen Feuermelder, nirgendwo. »Auf Brände machen Gefangene meist selbst aufmerksam. Bis sie wahrgenommen werden, kann gerade nachts sehr lange dauern«, so Marc M. weiter, der heimlich auf Fragen dieser Zeitung antworten muss, denn Handys sind in Knästen verboten.

Der bisher letzte Fall eines Brandtodes hinter Schloß und Riegel in der Hauptstadt: Das Feuer war am 19. Juli ausgebrochen, frühmorgens um 1.15 Uhr. Die Berliner Justiz sprach in einer ersten Stellungnahme von einer Selbsttötung, ohne die Umstände näher zu kennen. »Der Mann hat den Brand selbst gelegt und sich verbarrikadiert«, so damals eine Sprecherin des Justizsenats. In jener Nacht ist ein 29 Jahre alter Kurde in seiner Zelle in der JVA Heidering umgekommen. Nun führt die Staatsanwaltschaft Potsdam ein Todesermittlungsverfahren. Auf Instragram kursiert dazu eine Nachricht, dass die Schließer türkeistämmig seien und der faschistischen Gruppierung »Graue Wölfe« nahestehen sollen. Tragen sie eine Mitverantwortung für den Tod des jungen Mannes? Etwa weil sie aus ideologischen Gründen nicht helfen wollten?

Marc M. weiß folgendes: »Es gibt Videos des Vorfalls, die zeigen, dass absolut fragwürdig von seiten der Schließer gehandelt wurde. Hilfe wurde demnach zumindest nur zögerlich geleistet.« Verifizieren lässt sich das nicht. Dass die meisten türkeistämmigen Schließer in den Berliner Haftanstalten einen Bezug zur faschistischen MHP hätten, sei gerüchteweise bekannt. »Also, es passt auch leider zum Menschenbild vieler Beschäftigter in der Justiz dieser Stadt, einen ›Verbrecher‹ im Zweifelsfall verbrennen zu lassen«, so der Tegeler Gefangene.

Das sieht die Senatsverwaltung für Justiz erwartungsgemäß anders: »Zunächst ist anzumerken, dass in den Berliner Justizvollzugsanstalten keine ›Schließer‹, sondern Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdienstes tätig sind, die insbesondere die Funktion von Gruppenbetreuern ausüben«, antwortete Denise Schlesing am Dienstag auf jW-Anfrage. Anhaltspunkte dafür oder gar Erkenntnisse dazu, dass Mitarbeitende des allgemeinen Vollzugsdienstes der JVA Heidering mit den sogenannten »Grauen Wölfen« in Verbindung zu bringen wären, lägen der Behörde nicht vor. Sämtliche der vor Ort tätigen Mitarbeitenden hätten alles nur mögliche getan, um den Gefangenen aus dem Gefahrenbereich zu retten, so die Pressesprecherin der Klassenjustiz.

Ein weiteres Problem: Der Obduktionsbericht liegt laut der zuständigen Staatsanwaltschaft Potsdam noch nicht vor, vermutlich werde er erst in den nächsten zwei Monaten fertiggestellt, so die Pressesprecherin am Mittwoch gegenüber jW.

Heidering ist kein Einzelfall, wie jüngst eine »Frag-den-Staat«-Anfrage der Aktivistinnen und Aktivisten von Death in Custody (DIC) belegt. »Nach den Todesfällen gab es keine Anpassungen der Brandschutzvorrichtungen – es gibt grundsätzlich keine Vorrichtungen zur Brandlöschung innerhalb eines Haftraumes; das sei aufgrund der historischen Gebäudestrukturen vielerorts nicht möglich«, so das Rechercheteam, das die Todesfälle hinter Gittern untersucht.

Beispielsweise den von Ferhat Ma­youf. Dem Algerier wurde im Sommer 2020 »versuchter Diebstahl« vorgeworfen – eine Bagatelle. Da der junge Mann keinen festen Wohnsitz hatte, kam er in Untersuchungshaft in die JVA Moabit. Drei Wochen später war er tot. Erstickt an einer Rauchgasvergiftung bei einem Brand in seiner Zelle. Bei einer Rauchgasvergiftung werden Menschen erst bewusstlos, der Tod tritt deutlich später ein.

Vermutlich hatte er das Feuer in seiner Zelle gelegt. Dokumentiert ist allerdings auch, dass er zuvor mehrfach den Alarmknopf gedrückt hatte – das spricht dafür, dass er nicht sterben, sondern durch das Feuer auf seine Not aufmerksam machen wollte. Es gibt Aussagen von weiteren Gefangenen, dass Mayouf noch um Hilfe rief, als seine Zelle bereits brannte. Die Aussagen der Beamten, warum nicht die Metalltür zum Haftraum als Rettungsmaßnahme geöffnet wurde, unterscheiden sich stark, waren widersprüchlich.

»Der Aufklärungswille im Fall Ferhat Mayouf, was die individuelle Verantwortlichkeit der Justizbeamten angeht, war unterirdisch«, sagte Mayoufs Rechtsanwalt Benjamin Düsberg am Mittwoch im jW-Gespräch. Es sei dokumentiert, dass die vier Beamten vor der Zellentür standen und höchstwahrscheinlich nicht mal versucht haben sollen, die Tür zu öffnen. Es war nur ein Schwelbrand, mit Brandschutzvorrichtungen wie Feuerlöscher, Atemschutz und Lederhandschuhen wäre es vermutlich möglich gewesen, die Tür zu öffnen. »Statt dessen warteten sie 30 Minuten auf die Feuerwehr, die dann irgendwann die Tür aufmachte und nur noch seinen Tod feststellen konnte«, so der Anwalt, der später auch Mayoufs Bruder vertrat.

Marc M. resümiert aus seiner schutzlosen Zelle in der JVA Tegel: »Die meisten Brände sind selbst gelegt und als Hilferufe von Gefangenen zu verstehen. Gefangenschaft ist eine extreme psychische Belastung.« Hilfe, gerade in psychologischer oder psychosozialer Hinsicht, gebe es immer weniger, dafür mehr Repression. Man sehe, wo Inhaftierte als »Schutzbefohlene« des Justizsystems im »Ranking« stünden, wenn die Senatorin vollmundig die Anschaffung von Hightechkameras für Knastparkplätze ankündige, »während gleichzeitig in Berlin keine Zelle mit einem Feuermelder ausgestattet ist.« Trotz der vielen Verletzten und fünf Toten.

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