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Aus: Ausgabe vom 17.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Ukraine-Krieg

Selenskij pokert hoch

Der ukrainische Angriff auf das Gebiet Kursk in Russland ist militärisch riskant. Aber er kann sich politisch auszahlen
Von Reinhard Lauterbach
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Angriff als Faustpfand: Auch ein Spielplatz wurde am 11. August in Kursk getroffen

Es hörte sich an wie eines dieser Geplänkel, die am Rande des Ukraine-Kriegs immer wieder vorkommen. Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak sagte dem britischen Independent vom Donnerstag, sein Land habe die westlichen Partner, insbesondere die USA und Großbritannien, zwar nicht über jedes Detail der geplanten Operation auf russischem Boden ins Bild gesetzt, denn »einiges muss man lokal und unter Nutzung des Überraschungsmoments tun«. Aber im großen und ganzen seien die genannten Verbündeten über die Kiewer Pläne auf dem laufenden gehalten worden.

Worauf der diensthabende Sprecher des US-Außenministeriums, Vedant Patel, etwas von sich gab, was ein Dementi sein sollte, aber faktisch die Darstellung Podoljaks bestätigte: »Wir waren in keiner Weise an der Planung oder Vorbereitung dieser Operation beteiligt (…) aber unsere Rolle und unser Ziel ist es, die Ukraine zu unterstützen, damit sie sich selbst verteidigen kann.« Klar, der Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung ist relativ – aber so hört es sich an, wenn ein »Partner« grünes Licht bekommt für eine Aktion, mit der der andere nicht direkt in Verbindung gebracht werden möchte. Nicht nur, weil das Gegenteil ja nichts Geringeres wäre als das Eingeständnis einer direkten Verwicklung der USA in einen Angriff auf russisches Territorium. Sondern vor allem, weil hinter der unmittelbaren militärischen Auseinandersetzung offenbar auch ein politisches Spiel gespielt wird. Und hier ist der Einsatz ein ganz anderer: vermutlich, einen möglichen »Ukraine-Deal« eines möglichen US-Präsidenten Donald Trump im Keim zu ersticken, bevor er auch nur formuliert worden ist.

Einen Gefallen hat Russland dieser Konzeption schon getan. Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow erklärte, mit dem ukrainischen »Terrorangriff« auf das Gebiet Kursk sei das Thema Friedensverhandlungen »für sehr lange Zeit erledigt«. Die unpräzise Formulierung lässt vermuten, dass der ukrainische Angriff Moskau tatsächlich an einer Stelle auf dem falschen Fuß erwischt hat. Nämlich bei der Frage, nach welcher Formel ein künftiger Friedensschluss passieren sollte. Bisher hatte Russland immer gefordert, eine solche politische Regelung müsse »die Realitäten am Boden« berücksichtigen, also praktisch den Frontverlauf. Das ließ sich so lange gut vertreten, wie die Front ausschließlich auf ukrainischem Gebiet verlief. Jetzt aber verläuft sie auch auf russischem, und dass es nur ein kleines Gebiet ist, tut an dieser Stelle wenig zur Sache. Denn Moskau muss sich jetzt entscheiden: Will es Frieden entlang des Frontverlaufs und dafür womöglich auch den Verlust von Teilen des Kursker Gebiets akzeptieren? Das wäre für Wladimir Putins Selbstbild als »Mehrer des Reiches« mehr als fatal. Oder fängt Russland plötzlich an, vom Standpunkt international anerkannter Grenzen zu argumentieren? Genau das will die Ukraine vermutlich erreichen. Ihr Präsident hat erklärt, Kiew sei an der Besetzung russischen Territoriums nicht interessiert. Die Ukraine hat bei Gesprächen auf dieser Grundlage einiges mehr zurückzuverlangen als Russland: bis zu 110.000 Quadratkilometer im Vergleich zu vielleicht 1.000.

Peskows Erklärung über das nun für lange erledigte Thema Friedensverhandlungen spielt genau der Fraktion in den USA – und der Ukraine – in die Hände, die solche Verhandlungen auch nicht will. Jenseits des Atlantiks ist das die Regierung von Joseph Biden, in Kiew sind es Präsident Wolodomir Selenskij und seine Umgebung, die ihre eigene Macht untrennbar damit verbunden haben, dass der Krieg erst einmal weitergeht. Einem »Ukraine-Deal« von Trump wäre vom Ausgangspunkt her die Grundlage entzogen, wenn Russland so einen Deal sowieso ausschließt. Und dass die herrschenden Cliquen in Washington und Brüssel bereit sind, allen Verfahrensregeln zum Trotz vollendete Tatsachen zu schaffen, die möglichen Nachfolgern die Hände binden, hat man auch schon daran sehen können, wie Ursula von der Leyen die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine Ende Juni forciert hat, um die ungarische Ratspräsidentschaft auszubremsen.

Wie üblich ist das Risiko dieser Strategie höchst ungleich zu Lasten der Ukraine verteilt. Russland hat die kurzfristige militärische Kalkulation Kiews durchschaut und denkt nicht daran, größere Truppenteile von der unter Druck stehenden Donbassfront abzuziehen. Es sind nach Darstellung russischer Militärblogger nur ein paar Bataillone, die an die Kursker Front verlegt wurden. Moskau setzt offenbar darauf, aus der Luft den Nachschub für die Ukrainer im Gebiet Kursk abzuschneiden, so dass sie früher oder später von selbst den Rückzug antreten müssten. Die Ukraine vergrößert dieses Nachschubproblem noch, indem sie ihre Truppen am Kursker Frontabschnitt auf inzwischen bis zu 10.000 Soldaten verstärkt.

Unterdessen hofft Russland, dass es die ukrainischen Positionen vor allem im Donbass durch anhaltenden Druck weiter schwächen oder gar durchbrechen kann. Kurzfristig scheint es nicht in der Lage zu sein, mehr zu tun, als die ukrainischen Einbrüche bei Kursk abzuriegeln. Eine neue Mobilisierung – die nach offiziellen Angaben aus Moskau nicht geplant und angeblich auch nicht nötig ist – würde daran bis zum Frühjahr nichts ändern. Wer jetzt einberufen wird, wird seine Ausbildung erst im Winter abgeschlossen haben. Dann kommt der Frost und dann die Matschperiode im Frühjahr, in der größere Operationen nicht möglich sind. Der Krieg kann also erst einmal bis Mitte 2025 weitergehen.

Hintergrund: Werden die Ziele knapp?

Bisher sind die angedrohten russischen »Vergeltungsschläge« für die ukrainischen Angriffe auf russischem Boden ausgeblieben. Das liegt vor allem daran, dass auch eine Eskalationsstrategie eine Richtung haben muss. Nur einfach wahllos herumzubombardieren reicht nicht.

Schwer zu eskalieren ist nach jetzigem Stand der russische Krieg gegen die ukrainische Energiewirtschaft. Ukrainische Politiker geben selbst zu, dass die Kohlekraftwerke des Landes zu über 80 Prozent zerstört sind. Was noch an Strom produziert wird, kommt demnach überwiegend aus den drei verbliebenen AKW in den Bezirken Riwne, Chmelnizkij und »Südukraine«. Diese direkt anzugreifen, müsste auch die russische Seite vermeiden wollen, denn das Risiko eines physischen – die Ukraine liegt in der Westwindzone, radioaktive Niederschläge würden also auch in Richtung Russland ziehen – und politischen Fallouts wäre zu groß.

Aus demselben Grund lässt Russland vermutlich das AKW bei Kursk einstweilen normal weiterlaufen. Man glaubt vermutlich, dass sich die Ukraine aus denselben politischen Gründen nicht trauen würde, die Anlage direkt anzugreifen. Zumal es am Strahlenrisiko kurzfristig nichts ändern würde, wenn die Anlage jetzt heruntergefahren würde. Etwas anderes wären auf beiden Seiten Schläge gegen die Leitungsinfrastruktur der AKW, über die der erzeugte Strom ins Netz eingespeist wird. Dass auch die Ukraine Drohnenangriffe über größere Entfernungen beherrscht, zeigt sie jede Nacht, etwa wenn sie Ziele im russischen Gebiet Nischni Nowgorod Hunderte Kilometer östlich von Moskau angreift.

Verletzlich sind auch die Wasserkraftwerke am Dnipro. Das unterste in Kachowka ist schon zerstört, es bleiben noch vier weitere stromaufwärts. Aber die ökologischen Schäden wären immens und würden auch russisch kon­trolliertes Gebiet am Unterlauf des Stroms treffen. Viele wundern sich, warum es bisher offenbar keine Schläge gegen die Brücken über den Dnipro gegeben hat. Das Problem ist: Kurzfristig würde eine Zerstörung zwar den ukrainischen Nachschub empfindlich stören und auch die Lieferung moderner westlicher Waffen an die Front erschweren. Aber langfristig würde Russland damit einen möglichen eigenen künftigen Angriff auf das rechte (westliche) Flussufer erschweren. Man kann also sagen: Genau das Ausbleiben von Angriffen auf die Brücken deutet darauf hin, dass sich Moskau dieses Ziel eines Vorstoßes über den Fluss nach Westen zumindest vorbehält. (rl)

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (17. August 2024 um 11:39 Uhr)
    Die ukrainische Offensive in Kursk ist spektakulär, wagemutig und ein herber Schlag für Moskau. Die blitzschnelle Invasion der Ukraine in die russische Provinz Kursk hat höchstwahrscheinlich selbst die kühnsten Erwartungen der Planer übertroffen. Mit Bodentruppenvorstößen in die russischen Grenzregionen hat die ukrainische Armee die politische und militärische Führung in Moskau offensichtlich kalt erwischt. Die Grenze war schlecht gesichert, und die in der Region stationierten Soldaten zeigten zunächst wenig Kampfbereitschaft. Für den Kreml stellen die Verluste, auch wenn sie möglicherweise nur von kurzer Dauer sind, eine politische und militärische Blamage dar. Doch trotz dieses Erfolges birgt das ukrainische Manöver auch erhebliche Risiken. Die Ukraine hofft, dass ihre Offensive in Kursk russische Truppen aus dem Donbass abzieht und den Druck auf die stark belasteten ukrainischen Einheiten dort verringert. Allerdings gibt es kaum Anzeichen dafür, dass Russland Truppen von der Front abgezogen hat. Im Gegenteil, seit dem 6. August rückt Russland im Osten der Ukraine weiter vor und befindet sich auf dem Vormarsch. Die entscheidende Frage ist nun, ob die Ukraine ihre kurzfristigen Gewinne auf russischem Boden in einen dauerhaften strategischen Vorteil ummünzen kann. Kiew muss schnell entscheiden, ob es sich eingraben, zurückziehen oder weiter vorrücken will, um diese Gewinne als Verhandlungsmasse zu nutzen. Doch diese Entscheidung hängt nicht allein von den ukrainischen Vorstellungen ab. Von entscheidender Bedeutung wird sein, wie der Kreml reagiert und was er plant. Im schlimmsten Fall könnten die Russen sämtliche Dnepr-Brücken zerstören, um den Nachschub für die Ostukraine ein für alle Mal zu unterbinden.
    • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (19. August 2024 um 12:10 Uhr)
      »Für den Kreml stellen die Verluste, auch wenn sie möglicherweise nur von kurzer Dauer sind, eine politische und militärische Blamage dar.« Herr Hidy, wenn sich jemand neben Ihnen unerwartet aus dem zehnten Stock aus dem Fenster stürzt, Sie das nicht verhindert haben, ist dies ja auch keine Blamage für Sie. Sie gehen nämlich wie der Kreml davon aus, was wahrscheinlich und logisch ist. Gegen selbstmörderische Attentate auf die Zivilbevölkerung wie in Kursk ist nicht immer überall Vorsorge zu treffen bei einem begrenzten Truppenkontingent und fehlender allgemeiner Mobilmachung wie jetzt in Russland. Die Führung der UdSSR hatte am 22. Juni 1941 zwar durchaus für die Zukunft mit einem Überfall Deutschlands gerechnet, jedoch nicht zu diesem Zeitpunkt. Es bedeutete nach dem Desaster des Ersten Weltkrieges erneut einen Zweifrontenkrieg für Deutschland (eigentlich wahnsinnig und undenkbar, auch aus Hitlers Sicht absolut dumm) und war von Anfang an ein Selbstmordunternehmen, mit dem Stalin nach dem Nichtangriffspakt zu diesem Zeitpunkt nicht rechnete. Das gleiche betrifft jetzt eine Ukraine, die eine zusammen brechende 2000 km lange Front kaum halten kann, wenn sie für einen Gebietsgewinn, von dem absehbar ist, dass sie ihn ebenfalls nicht halten kann, ihre besten und letzten Reservetruppen verheizt und den Krieg letztendlich verliert. Es ist ein Selbstmordkommando, egal wo solche Hasardeure auftauchen. Da sich die Ukrainer jedoch bereits in kleinen Gruppen in den Wäldern um Kursk verteilen, kann sich die Angelegenheit doch länger hin ziehen, wie bei den Bandera-Partisanen, die damals auch noch fünf Jahre nach Kriegsende (!) Terrorakte gegen die Zivilbevölkerung verübten. Die wurden damals von GB und den USA am Leben erhalten. Das könnte bereits ein Hinweis auch für die Taktik des Westens für die Zeit nach dem Ukraine-Krieg sein. Tschetschenische Terroristen wurden noch sehr lange Zeit von GB und Deutschland finanziell unterstützt, nicht nur für Spaziergänge im Tiergarten.
      • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (19. August 2024 um 18:07 Uhr)
        Aus folgenden Gründen halte ich dies für eine Blamage: In einer Zeit, in der Satelliten und andere Aufklärungstechnologien zur Verfügung stehen, sollte eine so massive Truppenbewegung an den feindlichen Grenzen von einer militärischen Weltmacht nicht unentdeckt bleiben.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer Erich K. aus Potsdam (16. August 2024 um 20:31 Uhr)
    Russland darf sich vom Marionettenregime des Herrn Selenskyj nicht düpieren lassen. Die Tatsache, dass man sich im Gebiet Kursk hat überraschen lassen, ist schlimm genug. Die Idee der westlichen Planer und Strategen, das Gebiet Kursk als Verhandlungsmasse einzusetzen, ist absurd und Russland muss endlich kraftvoll unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mitteln darauf antworten. Nur so kann es eine dauerhafte Blamage wegen der ungeschützten Grenzen vermeiden.

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