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Aus: Ausgabe vom 17.08.2024, Seite 4 / Inland
Genozid an den Jesiden

Plötzlich in Bagdad

Zehn Jahre nach Beginn des Genozids an den Jesiden schiebt Bundesregierung fleißig in den Irak ab. Protestcamp in Berlin
Von Annuschka Eckhardt
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Protestcamp am zehnten Jahrestag des Genozids an den Jesiden (Berlin, 3.8.2024)

Die Sonne flimmert, die Luft steht, am Freitag nachmittag sind nur wenige schlappe Touristen im Regierungsviertel der Hauptstadt unterwegs – eine junge Frau in Flipflops bleibt interessiert vor den großen Schildern an einer Wiese stehen: »Endlich alle Opfer würdevoll beisetzen!« steht dort. Auf einem Foto unter dem Schriftzug sieht man exhumierte Skelette aus einem Massengrab, auf einem anderen eine fliehende Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm.

Hussein Rasho bietet Kaffee und Tee an, während er durch das von der »Internationalen Föderation unabhängiger jesidischer Vereinigungen« initiierte Camp gegen Abschiebungen von Jesidinnen und Jesiden führt, das seit dem 28. Juli vor dem Bundestag aufgeschlagen ist. Er ist Jeside und arbeitete als Mediziner an den Frontlinien im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat im Irak und in Syrien. Seit einiger Zeit lebt er in Berlin. »Vergangene Woche wurde ein guter Freund von mir nach Bagdad abgeschoben, auch er ist jesidisch«, erzählt er traurig. Im Hauptpavillon des Camps steht ein mobiles Büro, an dem mehrere Personen an Laptops arbeiten. Liegen und Bänke stehen herum, um die zehn Personen leben hier momentan permanent. Einige kleinere Zelte stehen um den Pavillon herum.

Auch Rechtsanwältin Kareba Hagemann ist Jesidin und kennt den Fall gut. »Vergangene Woche wurde ein Jeside aus Deutschland deportiert, der bereits viereinhalb Jahre hier in Deutschland gelebt hat. Er hatte Sprachniveau B1 erreicht und sich an der Universität Bielefeld als Student eingeschrieben.« Sein Psychologiestudium aus dem Irak sei hierzulande als Bachelorabschluss anerkannt worden. Seit gut drei Jahren arbeitete er in der BRD und sei strafrechtlich überhaupt nicht in Erscheinung getreten. Die Ausländerbehörde Lippe hatte ihn zur Verlängerung der Duldung vorsprechen lassen, und während seines Termins wurde er unvermittelt von der Polizei in Empfang genommen. »Man hat ihm, wie er mir später berichtete, gesagt: Entweder Sie kommen widerstandslos mit, oder wir wenden Gewalt an«, erzählt Hagemann frustriert. Dann sei der junge Mann nach Düsseldorf verfrachtet und nach Bagdad deportiert worden.

Zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt: »Bei seiner Ankunft in Bagdad hat die Hasswelle in Kurdistan gegen die Jesiden wieder angefangen. Er konnte nicht sofort nach Şengal zurückkehren.« Anlass für die antijesidische Hetze seien die Worte eines jesidischen Anführers am zehnten Jahrestag des Genozids gewesen, der gesagt hatte: »Solange der Name Mohammed existiert, werden wir Jesiden im Irak nicht sicher sein.«

Auch zehn Jahre nach Beginn des Völkermords an den Jesiden und der Verschleppung und Versklavung von Tausenden Frauen und Kindern werden laut der Nichtregierungsorganisation Save the Children noch immer mindestens 1.300 jesidische Kinder vermisst. Auch nicht zurückgekehrt sind mehr als 2.700 Frauen, die vom »Islamischen Staat« verschleppt und versklavt wurden. Über 300.000 Jesiden sind Binnengeflüchtete und konnten noch nicht in ihre Heimat zurückkehren. In der BRD lebt mit geschätzt 200.000 Mitgliedern die mit Abstand größte Diaspora der Jesiden.

Diese plötzliche Deportation, dass ein junger Jeside vor wenigen Tagen wieder »in die Aussichtslosigkeit« abgeschoben wurde, sei nur ein Beispiel von vielen, das »zeigt, wie scheinheilig und ignorant die deutsche Politik mit dem Leid der Jesiden aus Şengal umgeht«, sagte Hagemann. Dieses Jahr seien schon um die 50 Jesiden in den Irak verbracht worden.

Farhad Shamo Roto, einer der Initiatoren des Protestcamps, hat klare Forderungen an die Bundesregierung: »Wir wollen Gerechtigkeit, dass alle Täter zur Rechenschaft gezogen werden und wir als eigenständiges Volk anerkannt werden. Wir Jesiden aus Şengal wollen, dass man uns so lange nicht in den Irak abschieben darf, solange nicht gewährleistet ist, dass wir dort in Würde und in Sicherheit leben können«, sagte der Politologe.

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