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Aus: Ausgabe vom 20.08.2024, Seite 12 / Thema
Literaturgeschichte

Liberalität und Emanzipation

Warum sich die Lektüre der Romane und Novellen E. Marlitts lohnt: Anlässlich des 150. Jahrestags der Veröffentlichung ihres Romans »Die zweite Frau«
Von Arnd Beise
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Bürgerliches Selbtsbewusstsein und weibliche Selbständigkeit – Eugenie John alias E. Marlitt nach einer Zeichnung von Rudolf Huthsteiner von 1887

Ob es einem behage oder nicht, »das Factum« bleibe: »Die Frauen sind eine Macht in unserer Literatur geworden«, so der Literaturkritiker Robert Prutz 1859 in seiner Bestandsaufnahme zur »Deutschen Literatur der Gegenwart. 1848 bis 1858«. Im Gegensatz zu früher sei auffällig, dass »die Frauen sich (…) nicht mehr begnügen, bloß in den Bahnen fortzuwandeln, welche die Männer ihnen vorgezeichnet haben, sondern daß sie (…) selbständig aufzutreten und ihre eigenen Interessen in ihrer eigenen Weise auszusprechen und zu vertheidigen suchen«. Man lebe in einer Zeit, in der »alle Ketten brechen und alle Unterdrückten frei aufathmen sollen«; und so sei auch »an die Frauen, die unserer gerühmten Bildung zum Trotz, Dank der Roheit der Männer, sich größtentheils noch in sehr gedrückter und unwürdiger Stellung befinden, (…) der Ruf der Befreiung ergangen«. Dem allgemeinen Trend zur Hochschätzung der Belletristik als bevorzugtem Mittel der Weltbetrachtung und -aneignung gemäß sei vor allem die Literatur Vehikel der Befreiung der »Unterdrückten, Gekränkten, Mißhandelten«.

Prutz bestätigte, dass seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert publizierende Frauen keine Seltenheit mehr waren. Wie Männer nutzten sie die Literatur als Medium der Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Stellung, und die ist im Patriarchat keine vorteilhafte. »Frauenliteratur« wird hier als eine Art des Schreibens sui iuris begriffen, mit der »selbständig« »eigene Interessen« auf eine »eigene Weise« vertreten werden. Sie ist also unabhängig, sie ist anders als die Literatur der Männer, und sie ist parteilich.

Frauen seien nicht nur eine »Macht« in der Literatur geworden, schrieb Prutz, sondern »auf manchen Gebieten, z. B. im Roman, haben sie sogar entschieden die Oberhand«. Das komme daher, dass man »nur dichten« könne, »was man erlebt hat«; und da der Roman traditionell eher im privaten Bereich spiele, auf den die Frauen verwiesen seien, sei die Wahl dieser Gattung natürlich, wenn es gelte, »gewisse Schattenseiten unserer socialen Verhältnisse« darzustellen, namentlich »gewisse Tragödien des häuslichen Lebens«, verursacht zumeist durch »gewisse dunkle Flecken in den Herzen und der Bildung unserer Männer«.

Der männliche Blick

War also der Liebes-, Ehe- und Familienroman weitgehend in weiblicher Hand, so konnten die konkurrierenden Männer literarisch darauf auf zweierlei Weise reagieren: Entweder wiesen sie dem Roman einen anderen Themenbereich zu, wie Gustav Freytag, einer der führenden programmatischen Realisten, der 1855 forderte: »Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit.« Oder man diffamierte die »eigene Weise« des weiblichen Blicks auf das Private, das bekanntlich ja auch immer politisch ist. Diese Strategie deutet sich bei Prutz schon an: Er behauptete, dass den Frauen Literatur nicht nur als Instrument im Geschlechterkampf diene, sondern auch als »ein Trost und eine Entschädigung (…) für die Leiden und Ungerechtigkeiten des Lebens «. Es sei traurig, aber wahr: »­­(W)ir haben unter unsern heutigen Frauen so viele Schriftstellerinnen, weil wir so viele unglückliche Frauen haben, in der Literatur suchen sie die Befriedigung, welche die Häuslichkeit, dieser nächste und natürlichste Boden des Weibes, ihnen nicht gewährt, sie flüchten in die Poesie, weil das Leben sie zurückstößt.«

Unter der Hand wird hier der zuvor scheinbar verständnisvoll eingeführten »›Frauenliteratur« die Wertschätzung entzogen: Würde Frauen in ihrer »natürlichen« Sphäre »Befriedigung« zuteil, kämen sie gar nicht auf die Idee, zu schreiben und literarisch über die Katastrophen der »Häuslichkeit« am »fleißigsten, wenn auch nicht immer am richtigsten (…) nach(zu)denken«.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird dieses Argument seitens der männlichen Literaturkritik weiter ausgebaut. »Frauenliteratur« – das heißt Literatur von Frauen für Frauen –  sei eskapistisch sowohl seitens der Autorinnen als auch der Leserinnen. Und sie sei nicht »richtige« Literatur, sondern lediglich minderwertige Unterhaltung, voll unnatürlicher Situationen und falscher Ideen. »Frauenliteratur« wurde zu einem Synonym für »halbschlächtige Mittelmäßigkeit«, wie es Paul Heyse nannte, oder kurz: »Marlitteratur«.

Heyse bezog sich damit auf das Pseudonym einer der berühmtesten Autorinnen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Eugenie John. Sie hatte seit 1865 eine atemberaubende literarische Karriere erlebt und gehörte zu den meistgelesenen Autorinnen und Autoren ihrer Zeit, sehr zum Ärger vieler männlicher Kollegen: »Die Sachen von der Marlitt (…), die ich gar nicht als Schriftsteller gelten lasse, erleben nicht nur zahlreiche Auflagen, sondern werden auch womöglich ins Vorder- und Hinterindische übersetzt; um mich kümmert sich keine Katze«, beklagte sich etwa Theodor Fontane 1879.

Friederike Christiane Henriette John, die ihre Eltern Eugenie riefen, wurde am 5. Dezember 1825 als zweite Tochter einer thüringischen Kaufmannsfamilie in Arnstadt geboren. Viel ist über ihre Jugend nicht bekannt; nur, dass ihre musikalischen und sprachlichen Talente schon früh auffielen. Die den Künsten zugetanen Eltern förderten sie, so gut es ging. Nach dem Konkurs von Ernst Johns Firma lebte die Familie in ärmlichen Verhältnissen, was den Vater dazu veranlasste, sich an die Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen, eine »eifrige Beschützerin von Kunst und Wissenschaft«, zu wenden und sie um die künstlerische Ausbildung des 15jährigen Mädchens zu bitten. Die Fürstin bezahlte tatsächlich die Ausbildung von Eugenie John zur Sängerin, zunächst in Sondershausen und dann bei den besten Lehrpersonen in Wien. 1846 kehrte John nach Sondershausen zurück und wurde zur Kammersängerin der Fürstin ernannt. In den Folgejahren trat John in Leipzig, Olmütz sowie verschiedenen österreichischen Städten auf und vervollkommnete ihre Studien abermals in Wien. Doch ein Gehörleiden zwang die aufstrebende Sängerin zum Abbruch dieser Laufbahn.

Fürstin Mathilde ließ sie nicht fallen. Eugenie John wurde 1853 ihre Privatsekretärin, Vorleserin und Reisebegleiterin. Johns Briefe verraten literarisches Talent, das zu pflegen ihr angeraten wurde. 1858 begann sie ernsthaft zu schreiben. Als Fürstin Mathilde 1863 aufgrund finanzieller Engpässe gezwungen war, ihren Hofstaat zu verkleinern, quittierte Eugenie John den Dienst (angeblich unter Beibehaltung ihres Gehalts) und kehrte nach Arnstadt zurück in den Haushalt ihres Bruders Alfred, der dort als Realschullehrer lebte.

Stempel des Talents

Ihr Bruder war es schließlich auch, der sie ermutigte, zwei Novellen an den Herausgeber der Gartenlaube zu schicken, eine seinerzeit weitverbreitete Familienzeitschrift. Ernst Keil antwortete am 20. Juni 1865: »Wenn man genötigt ist, so viele verfehlte, triviale, schülerhafte usw. novellistische Arbeiten zu lesen, wie dies die Redaktion einer Zeitschrift, wie es meine Gartenlaube ist, nicht anders mit sich bringt, so tut es doppelt wohl, stößt man unter der Menge von Einsendungen einmal auf eine Schöpfung, die nach Stoff und Form unwiderleglich den Stempel des Talentes an sich trägt. Als eine solche muß ich nun Ihre ›Zwölf Apostel‹ bezeichnen, die ich annehme, um sie, sobald dies die schon vorher getroffenen Dispositionen zulassen, in meiner Zeitschrift zum Abdruck zu bringen. – Ein Autor aber, dessen Feder ein so allerliebstes, von echter Poesie durchwehtes Bild aus dem deutschen Kleinbürgerleben schaffen konnte, hat gewiß noch manches interessante Motiv zur Ausführung in petto, und ich würde sehr gern meinerseits die Hand zu einer engeren Verbindung zwischen uns bieten, d. h. ich wäre mit Vergnügen bereit, auch fernere novellistische Beiträge von Ihnen zu akzeptieren und Sie zu den ständigen Mitarbeitern meiner Gartenlaube zu zählen«.

Das war der Beginn einer außerordentlich fruchtbaren Partnerschaft. In rascher Folge erschienen in der Gartenlaube die literarischen Texte von Eugenie John bzw. »E. Marlitt«, wie sich die Autorin genderneutral seit ihrer ersten Sendung an Ernst Keil nannte:

1865 (Heft 36–39) die Novelle »Die zwölf Apostel«; 1866 (Heft 1–19) der Roman »Goldelse«; im selben Jahr (Heft 27–32) auch die Novelle »Blaubart«; 1867 (Heft 21–38) der Roman »Das Geheimniß der alten Mamsell«; 1869 (Heft 1–32) der Roman »Reichsgräfin Gisela«; 1871 (Heft 31– 52) der Roman »Das Haideprinzeßchen«; 1874(Heft 1–21) der Roman »Die zweite Frau«; 1876 (Heft 1–26) der Roman »Im Hause des Commerzienrathes«; 1879 (Heft 14– 39) der Roman »Im Schillingshof«; 1881 (Heft 1–13) die lange Erzählung »Amtmanns Magd«; 1885 (Heft 1–20) der Roman »Die Frau mit den Karfunkelsteinen«. Der letzte Roman »Im Eulenhaus« wurde nach Marlitts Tod am 22. Juni 1887 von Wilhelmine Heimburg zu Ende geschrieben und erschien 1888 (Heft 1–25). Die Buchausgaben wurden in Ernst Keils Verlag jeweils noch im selben oder im folgenden Jahr publiziert.

Für den Verleger war die Zusammenarbeit mit Marlitt ein überaus einträgliches Geschäft. Die ersten drei Romane erreichten bis dato unbekannte Auflagenhöhen. Hauptsächlich wegen Marlitt stieg die Zahl der Abonnenten der Gartenlaube von rund 100.000 im Jahr 1865 auf rund 400.000 im Jahr 1885. Keils Profit aus der Zusammenarbeit mit Marlitt war so immens, dass er im Fall von »Reichsgräfin Gisela« auf alle Erlöse verzichtete und diese an die Autorin abtrat, die davon eine Villa (»Marlittsheim«) in Arnstadt für sich und die Familie des Bruders erbauen lassen konnte.

Der seinerzeit berühmte Literaturkritiker Rudolf Gottschall versuchte 1870 »den Ursachen dieses Erfolgs« auf die Spur zu kommen. In seinen Blättern für literarische Unterhaltung publizierte er eine Sammelbesprechung der ersten drei Romane. Er sah in »E. Marlitt (bekanntlich Pseudonym für Fräulein John in Arnstadt) (…) ein bedeutendes erzählendes Talent« mit einer besonderen Gabe für spannende Schilderungen. Ihre Kunst der Charakteristik (die Figuren seien »psychologisch wahr und dichterisch anmuthig geschildert«) lobte er ebenso wie den Stil der Autorin (»frei von jeder Künstelei und Uebertreibung, fließend und frisch, von anmuthiger dichterischer Belebung, ohne lyrische Extratouren, anschaulich und bezeichnend, edel und tadellos im Ausdruck wie in der syntaktischen Fügung«). Aufs Ganze gesehen bemerkte er »eine Fülle von genialen Zügen«. All das sei aber noch nicht entscheidend für den Erfolg; vielmehr sei dies die »Volksthümlichkeit der Stoffe«. Damit meinte Gottschall die Anlehnung an ein gewisses »Schema«, nämlich die Struktur der »volksthümlichen deutschen Sage« (einfache, auf ein Happyend zulaufende Handlung; klare Dichotomie von Gut und Böse) beziehungsweise speziell eines Märchens: »Aschenbrödels Braut- und Himmelfahrt ist das Ende in allen drei Romanen.«

Damit schien Gottschall die Zauberformel gefunden zu haben: Marlitts Romane gleich Variationen des Aschenputtel-Schemas gleich aus der Erniedrigung »häuslicher Dienstbarkeit« zum Glück einer Heirat in bessere Kreise gleich Traum aller Leserinnen gleich Erfolg.

Da schon um 1880 das Vorurteil aufkam – und gelegentlich mit Bedacht gepflegt wurde –, dass Lesende alle Romane Marlitts kennten, wenn sie einen gelesen hätten, wurde diese Formel schnell verallgemeinert, obwohl schon Gottschall klar formulierte, dass das Aschenputtel-Schema »eigentlich« nur beim »Geheimniß der alten Mamsell« deutlich durchscheine, während es zum Beispiel in der »Reichsgräfin Gisela« ziemlich »versteckt« sei. Trotzdem blieb diese Verallgemeinerung bis weit ins 20. Jahrhundert eine Art »Common sense« der Germanistik, nicht zuletzt, weil sich kaum jemand alle Texte Marlitts vornahm.

Das Erbe von 1848

Gottschall hatte aber noch ein weiteres, wichtiges Element für den Erfolg der Romane benannt: die »Tendenz« dieser Erzählungen, die sehr genau der gesellschaftspolitischen Ausrichtung der Gartenlaube entsprach. Diese war nämlich »das Blatt des linksgesinnten Bürgertums, pflegte den Gedanken von 1848 (…) und hat auf Bildung und Haltung des freisinnigen Bewußtseins unschätzbar eingewirkt«, wie der berüchtigte Literaturhistoriker Josef Nadler – gerade weil er diese Tendenz hasste – präzise auf den Punkt brachte.

»Goldelse« zum Beispiel zeichne sich durch »die Betonung bürgerlichen Selbstbewußtseins gegenüber aristokratischer Anmaßung und Ausbeutung, deutliche Stellungnahme gegen ostentative Frömmigkeit von oben (…), satirische Spitzen gegen Hofschranzentum und Kleinstadtgesellschaft, offensive(n) Einsatz für weibliche Selbständigkeit und Emanzipation (…) sowie Kritik an männlicher Doppelmoral und sexueller Unterdrückung« aus; »Das Geheimnis der alten Mamsell« stelle »ein vehementes Plädoyer für die Frauenbildung« sowie einen Angriff gegen »(k)leinbürgerliche Arroganz und religiöse Heuchelei« und den »Hochmut der Besitzenden« dar; die zentralen Themen in »Reichsgräfin Gisela« seien die Verteidigung von »Menschenrecht und -würde« als Grundpfeiler wahrer »Humanität« sowie »die Notwendigkeit der demokratischen Erneuerung eines überkommenen Feudalismus«, fasste der Literaturwissenschaftler Andreas Graf vor einiger Zeit zusammen. Marlitt habe in ihren Romanen »gewichtige Alltagsthemen« aufgegriffen, sie »in einen allgemeinen gegenwartspolitischen Rahmen« gestellt und im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen »politisch kein Blatt vor den Mund« genommen. »Anders als etwa Fontane sah sie im regierenden Adel ihrer Zeit nie eine zukunftsfähige Kraft, sondern stets eines der Haupthindernisse für die Modernisierung der Gesellschaft.«

Dreißig Jahre vor Heinrich Mann, der in seinem »Untertan« (1914/18) ähnliches unternahm, schilderte Marlitt die »widerlichste Kriecherei«, den »Servilismus«, »die Machtanbetung, das ungenirte Buhlen um die Gnade einflußreicher Persönlichkeiten« und »Speichelleckerei in gröbster, abstoßendster Weise« als charakteristisch für die gründerzeitliche und wilhelminische Gesellschaft und »das gesammte moderne Leben«, eben als »Signatur unserer Zeit«, wie es die Protagonistin von Marlitts letztem zu Lebzeiten publizierten Roman »Die Frau mit den Karfunkelsteinen« formuliert.

Interessant in Hinsicht auf aktuelle Debatten sind zum Beispiel auch en passant verhandelte Themen wie die verderblichen Folgen von »Racenhaß«, der im amerikanischen Bürgerkrieg »zum Austrag kam« (»Im Schillingshof«), oder der angeblich »empörende Sieg des Capitals über das Ideale«, den aber eine dem Standesdünkel verfallene ältere Adlige in dem Roman »Die zweite Frau« beklagt.

Der zuletzt genannte, fünfte Roman Marlitts ist nicht nur numerisch der Mittelpunkt ihres Romanwerks. Gottschall nannte ihn 1875 »das beste Werk der Verfasserin«, Levin Schücking eine »virtuose Arbeit«, der Verleger Ernst Keil ein »Meisterwerk«. Es erschien vor genau 150 Jahren auf dem Höhepunkt des sogenannten Kulturkampfes, in dem Otto von Bismarck den Einfluss süddeutscher katholischer Kreise, die aufgrund einer Wahlrechtsangleichung in dem 1871 gegründeten Deutschen Reich stark an Einfluss gewonnen hatten, wieder zurückzudrängen suchte. Die publizistischen Auseinandersetzungen erreichten Mitte der 1870er Jahre eine heute kaum mehr vorstellbare Schärfe, weil Bismarcks Versuch, Staat und Kirche zu trennen, mancherorts als Untergang des christlichen Abendlandes begriffen wurde.

Marlitt positionierte sich klar als Parteigängerin Bismarcks im »Kampf gegen die clericale Anmaßung«. In dem Roman wird der politische Katholizismus in Gestalt eines intriganten Hofmarschalls und eines kriminellen Hofpredigers in seiner moralisch erbärmlichsten Form vorgeführt. Die Dogmen der katholischen Hofpartei werden als »die wahnsinnigste Vermessenheit des Menschengehirns, die der alte Mann in Rom proklamiert«, bezeichnet. Der Antikatholizismus war in diesem Roman so stark, dass das Buch in einigen süddeutschen Staaten verboten wurde. In Frankreich vertauschte die Übersetzerin kurzerhand die Position der beteiligten Figuren: Aus der zu einem Pantheismus à la Lessing tendierenden Protestantin Liane wird eine gute Katholikin; ihr jesuitischer Gegenspieler, der Hofprediger, wird zu einem fanatischen Hugenotten, weil die parteipolitische Stellungnahme des Originals ihrer Leserschaft nicht zuzumuten gewesen wäre, meinte Emmeline Raymond. Wie ein Gast sich den Sitten des Landes, das er besuche, anzupassen habe, so habe sie Marlitts Roman dem französischen »Geschmack« (»gout«) angepasst.

Zielstrebig und hartnäckig

Wichtiger als die Zeitpolitik war aber Marlitts Lebensthema, die Emanzipation der Frau. Allerdings nimmt »Die zweite Frau« im Œuvre der Autorin insofern eine Sonderstellung ein, als dieser Roman keine Eheanbahnungsgeschichte erzählt, sondern die Entwicklungsgeschichte eines Paars in der Ehe schildert:

Der seit kurzem verwitwete Raoul von Mainau hat die schon erwähnte Liane von Trachenberg nur geheiratet, um einerseits eine Erzieherin für seinen Sohn zu gewinnen und andererseits sich an der Herzogin zu rächen, die ihn einst verschmähte und sich nach dem Tod des Herzogs wieder für ihn interessiert. Für Raoul entspricht seine Ehe einem »geschäftsmäßigen Vertrag«. Nicht so für Liane: Moralisch integer und physisch belastbar, wie die meisten Heldinnen Marlitts, unternimmt sie alles, um Raoul von seiner katholischen Verwandtschaft zu emanzipieren, das dunkle Familiengeheimnis aufzudecken, geschehenes Unrecht wiedergutzumachen und die Liebe ihres Mannes zu gewinnen. Obwohl die Beziehung lange Zeit auf Messers Schneide steht (»Trauung und Trennung so eng beieinander!«) und Liane zahllose Schikanen ihres Mannes und seiner Umgebung zu erdulden hat, obsiegt sie am Ende. Die Verbrechen des Hofmarschalls und des Hofpredigers kann sie aufdecken und die Misogynie ihres Mannes überwinden. Am Ende leistet er »Abbitte« seiner »beleidigten Frau gegenüber« und bekennt sich öffentlich zu ihr und seiner inzwischen erstandenen Liebe.

Liane ist insofern eine typische Marlitt-Heldin, als sie mit großer Hartnäckigkeit handelt und mit einer Politik der kleinen Schritte es schafft, sich die Würde und den Respekt zu erarbeiten, die ihr über lange Zeit vorenthalten werden. Sie ist ein »charaktervolles Weib«, das sich unterfängt, »selbständig zu denken« und unbeugsam für seine Grundsätze einzutreten – ein »ketzerische(r) Geist (…) unter (…) roten Flechten«. Von »strenger Tugend« und »selbstbewußter Weiblichkeit« ist die Rede, was für einige Männer des Romans unerträglich ist. Sie ist es, die am Ende das »häusliche Glück« etabliert, was in den Augen der Alten »nach modernem Umsturz aussieht«.

Doch Liane ist kein Übermensch. Mitunter verzagt sie. »Du denkst wie ein Mann und handelst urplötzlich wie ein erschrecktes Kind«, beobachtet Raoul einmal. Gelegentlich droht ihr Herz »zu brechen in stummer Qual«. Doch macht das Liane für ihre Leserinnen erst recht zu einer Identifikationsfigur.

Trainingsfeld für Leserinnen

Für Marlitts Romane gilt wie für viele Texte der »Frauenliteratur« des 19. Jahrhunderts: »Die weibliche Perspektive gibt sich nicht durch lautstarken Widerstand gegen das Patriarchat kund«, wie die Literaturwissenschaftlerin Katja Kauer in einer Anleitung zum feministischen Lesen formuliert. Sie argumentieren innerhalb einer patriarchalen Rahmung; innerhalb dieses Rahmens aber virulenter als die Romane der männlichen Kollegen. Marlitts Protagonistinnen besaßen ein höheres Identifikationspotential für ihre Rezipientinnen als etwa eine Effi Briest: Deren »unsinnige Liebelei« als Protest gegen das Ehejoch bot der kleinbürgerlichen Leserin »keine sinnvolle Perspektive«. Dagegen konnten die Leserinnen Marlitts versuchen, den vorgeführten Handlungsweisen der Frauenfiguren »nachzuträumen« und »deren Ideologiekritik in ihr eigenes reales Leben zu integrieren«, so Kauer. In den Romanen wurden »durch die Darstellung positiver Frauenfiguren sowie alternativer Familien- und Ehemodelle, in denen die Frau eine dem Mann ebenbürtige Partnerin ist, literarische Präzedenzfälle« geschaffen, die einer anderen, »eigenen« und »bisher nicht vorhandenen Frauengeschichte« vorarbeiteten. Die Heldinnen der Romane zeichnen sich durch ein waches »Problembewusstsein hinsichtlich ihrer schwierigen und unbefriedigenden gesellschaftlichen Stellung« aus und vermitteln Alternativen zu den bestehenden Verhältnissen, die auch außerliterarisch anregend wirken konnten, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Vivien Rüffieux. Die Fiktion der Romane wird gleichsam zu einem literarischen Trainingsfeld für Leserinnen, was keineswegs mit dem von Robert Prutz angeprangerten Eskapismus zu verwechseln ist. Vielmehr boten diese Romane zumindest der weiblichen Leserschaft einen »literarischen Mehrwert« durch »lebenspraktische Hinweise (im Umgang mit der gesellschaftlichen Rolle als Frau)«, was auch half, »ein kritisches Reflexionsvermögen auszubilden« (Kauer).

Insofern sind Marlitts Romane und Novellen »Frauenliteratur« im emphatischen Sinn (selbständig eigene Interessen auf eine eigene Weise vertretend) und noch mehr. Dass es auch männliche Kollegen gab, die dies begrüßten, zeigt das Beispiel des Schweizers Gottfried Keller. Er gratulierte enthusiastisch dem Feuilletonchef des Berner Bunds, Joseph Victor Widmann, als dieser 1885 in einer literarischen Debatte »die gute Dame Marlitt« öffentlich gegen den Vorwurf der Unsittlichkeit in Schutz nahm, und soll über Marlitts Texte geäußert haben:

»Das ist ein Zug, ein Fluß der Erzählung, ein Schwung der Stimmung und eine Gewalt in der Darstellung dessen, was sie sieht und fühlt – ja, wie sie das kann, bekommen wir das alle nicht fertig. Es lebt in diesem Frauenzimmer etwas, das viele schriftstellernde Männer nicht haben, ein hohes Ziel; diese Person besitzt ein tüchtiges Freiheitsgefühl, und sie empfindet wahren Schmerz über die Unvollkommenheit der Stellung des Weibes.«

Für Marlitt wäre dieses Urteil eine Genugtuung gewesen. Zwar wollte sie es nie »jedem Kopf des vielköpfigen Ungeheuers«, der Leserschaft, »recht machen«, doch die Sache der Frauen zu vertreten war ihr ein Anliegen, und so schrieb sie einmal an ihren Verleger: »Wenn ich durch meine Frauengestalten in jungen Mädchenseelen den Trieb der Nacheiferung wecke, so ist mir dies ein bei weitem höherer Lohn, als der Beifall eines blasierten Publikums.«

Arnd Beise ist Professor für Germanistik an der schweizerischen Universität Freiburg. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 2. Juli 2024 über den Lyriker Friedrich Gottlieb Klopstock

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  • Leserbrief von Sophie S. (22. August 2024 um 21:57 Uhr)
    Danke für diesen blickerweiternden Artikel. Ich gehöre einer Generation an, die sehr dankbar dafür ist, dass Wissenschaftler*innen uns darüber aufklären, wie tief wir patriarchalische Wertmaßstäbe internalisiert haben, egal, welchem Geschlecht wir angehören und es uns selbstverständlich ist, auf »Frauenliteratur« herabzusehen. Das heiß nicht, dass wir alle zu diesen Büchern greifen, nur mit der Verachtung für diejenigen aufhören sollten, denen die verschmähten Autorinnen etwas bedeutet haben. Für viele Menschen heutzutage ist auch »Effi Briest« langweilige »Frauenliteratur« und ihnen rätselhaft, was an diesem Roman besonders ist. Fontanes, von der traditionell männlich dominierten Wissenschaft akzeptierte, Empathie für weibliche Schicksale ist genauso Ausdruck seiner Zeit wie die Beliebtheit von Marlitts Texten. Der Artikel wertet nicht, er erhellt, kritisch im besten Sinn. Sophie S.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christel H. aus Aschersleben (23. August 2024 um 12:32 Uhr)
      Liebe Sophie S., es wäre schon viel gewonnen, wenn Sie zwischen Literatur und Kitsch unterscheiden könnten, aber ich gebe zu, das ist in der heutigen Zeit schwer. Nun kann sich jedoch Herr Fontane nicht mehr dafür entschuldigen, dass er ein Mann ist. Nichts für ungut!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christel H. aus Aschersleben (20. August 2024 um 19:54 Uhr)
    Mir hat es die Sprache verschlagen, in meiner jungen Welt Lobeshymnen über die Romane von Eugenie Marlitt zu lesen. In meinen Teenagerjahren habe ich hin und wieder Bücher von Marlitt und Courth-Mahler gelesen, und wenn ich heute daran denke, gräme ich mich um die vertane Zeit. Auch lange Abhandlungen über Emanzipationsbestrebungen in ihren Büchern können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in Marlitts Romanen Herren und Diener gab und selbstverständlich am Schluß ein Happyend. Das I-Tüpfelchen des Artikels aber ist, daß ein gestandener und viel gelesener Schriftsteller wie Theodor Fontane neben Marlitt kleingemacht werden soll. Gerade seine Romane zeigen, daß seine ungeschmälerte Sympathie immer seinen Frauengestalten galt. Der Themenartikel war eine einzige Enttäuschung!