Schreibkraft mitschuldig
Von Kristian StemmlerEs ist möglicherweise das letzte Strafverfahren zur Aufarbeitung der Verbrechen des deutschen Nazifaschismus im 20. Jahrhundert. Der Bundesgerichtshof (BGH) in Leipzig hat die Verurteilung der ehemaligen KZ-Sekretärin Irmgard F. wegen Beihilfe zum Massenmord bestätigt, wie der BGH am Dienstag mitteilte. Der 5. Strafsenat verwarf demnach die Revision der inzwischen 99 Jahre alten Frau aus Quickborn nahe Hamburg gegen ein Urteil des Landgerichts Itzehoe. Das Gericht hatte Irmgard F. im Dezember 2022 wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen sowie zum versuchten Mord in fünf Fällen zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt. Die Jugendstrafe war verhängt worden, weil F. zum Zeitpunkt der Tat zwischen 18 und 19 Jahre alt war.
Von 1943 bis 1945 hatte die Frau als Sekretärin in der Kommandantur des Konzentrationslagers (KZ) Stutthof bei Danzig gearbeitet. Über den Schreibtisch der Stenotypistin war fast die gesamte Korrespondenz des Lagers gegangen. Das Landgericht hatte geurteilt, dass sie die Haupttäter »willentlich dabei unterstützt habe, Gefangene durch Vergasungen, durch die Schaffung lebensfeindlicher Bedingungen im Lager, durch Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und durch Verschickung auf sogenannte Todesmärsche grausam zu töten«. Die Verteidigung von Irmgard F. hatte Revision gegen das Urteil eingelegt, der BGH darüber Ende Juli mündlich verhandelt. Die Anwälte stellten in Frage, ob der Frau ein Vorsatz nachgewiesen werden kann. Es sei nicht erwiesen, dass sie wirklich wusste, was in dem Lager vor sich ging.
Im Verfahren ging es zentral um die Frage, ob die Handlungen von F. den Anforderungen für eine Beihilfe im Strafgesetzbuch genügen. Der BGH bestätigte die Einschätzung des Landgerichts, die das bejaht hatte. Irmgard F. half laut Urteil »durch ihre Schreibarbeit dem Lagerkommandanten und dessen Adjutanten, mit denen sie vertrauensvoll zusammenarbeitete, nicht nur physisch«. Sie habe diesen »durch ihre Einordnung in den Lagerbetrieb als zuverlässige und gehorsame Untergebene auch psychisch« bei Begehung der Morde geholfen.
Das Urteil stützte sich laut Mitteilung auf die frühere Rechtsprechung des BGH. So war bereits im Fall eines Wachmanns im KZ Auschwitz-Birkenau die Beihilfe zum Mord auch ohne Nachweis eines konkreten Tatbeitrages bejaht worden, weil dieser »Teil der Mordmaschinerie« gewesen sei. Der BGH widersprach der Auffassung der Anwälte von Irmgard F., die eine Beihilfe bestritten hatten, weil ihre Tätigkeit als »berufstypisch neutrale Handlungen mit Alltagscharakter« einzustufen sei. Der Senat stellte klar, dass wegen des Wissens von F. um die Verbrechen ihrer Vorgesetzten jeglicher »Alltagscharakter« verlorengegangen sei.
Der BGH bestätige mit dem Urteil »im Kleinen, was auch im Großen gilt«, erklärte Florian Gutsche, Bundesvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, am Dienstag auf jW-Anfrage. Die Verbrechen der Nazis seien der »gesamten deutschen Gesellschaft bekannt« gewesen und für diese Taten dürfe es »kein Vergeben und kein Vergessen geben«.
Der Bundessekretär der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ), Andreas Engelmann, erinnerte am Dienstag gegenüber jW daran, »dass die juristische Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik« erst angefangen habe, »als die Haupttäter gestorben und begraben waren«. Solange diese »zur herrschenden Klasse und zum politischen Apparat des Landes gehörten«, sei eine rechtliche Aufarbeitung und Verfolgung verhindert worden. So hättten »die Quandts und Flicks ihr im NS erworbenes Vermögen« nie abgeben müssen, kritisierte Engelmann. Prozesse seien schließlich »gegen untergeordnete und hochbetagte Handlanger« der Nazidiktatur geführt worden.
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Leserbrief von Reinhard Sandrock aus Dresden (21. August 2024 um 13:31 Uhr)Mir fällt nur ein Satz ein: Die Kleinen hängt man, die Großen, die Protagonisten des Faschismus, ließ man nicht nur nicht laufen, sie hob man in die höchsten Spitzen des altbundesdeutschen Staates, in Politik, Justitz, Militär, Geheimdienste uva. Die Globkes, Gehlen, Lübke, Kiesinger, die (Wehr)wirtschaftsführer, die mit dem Krieg Milliarden verdienten und das Hitlerregime ermöglichten und bis zur letzten Stunde stützten. Fast 80 Jahre hat es gedauert, bis das Wirken von Ministerien und Organisationen in der Zeit des Faschismus aufgearbeitet wurde, so manche tun sich immer noch schwer damit. Jetzt hat man wieder einmal den Schützearsch im letzten Glied verurteilt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ralph D. aus Gotha (21. August 2024 um 11:19 Uhr)Die Verurteilung der ehemaligen KZ–Sekretärin war ebenso wichtig wie notwendig, vor allem die in diesem Zusammenhang getroffene Schuldfeststellung. Es ist bedauerlich, dass sich die bereits vor Jahrzehnten von namhaften Juristen vertretene Rechtsauffassung, dass jeder, der als »Rädchen im Getriebe« in einem Konzentrationslager die Mordmaschinerie unterstützte, der Beihilfe zur Tötung schuldig ist, erst 2011 bei der Verurteilung von John Demjanjuk durchsetzte. So entgingen viele Täter in der »zweiten Reihe« ihrer Verurteilung. Die jetzt noch gegen einzelne, fast 100jährige, durchgeführten Verfahren vermögen nicht, das Defizit bei der Strafverfolgung von Nazigewaltverbrechern in der Bundesrepublik zu beseitigen. Die Justiz hat hier auf breiter Ebene versagt. Ralph Dobrawa, Gotha
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (20. August 2024 um 19:48 Uhr)Die Justiz der BRD hat 79 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs endlich ihre Hausaufgaben gemacht. Diese Zeit hat vollends ausgereicht, die wirklichen Mörder entkommen oder in Frieden und teilweise hoch geehrt sterben zu lassen. Man kann sich nur schämen, Bürger eines Landes zu sein, das die großen Gauner immer laufen ließ und auch weiter lässt.
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