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Aus: Ausgabe vom 21.08.2024, Seite 8 / Inland
Politische Justiz

»Die BRD legt den Terrorbegriff sehr weit aus«

Niederlande: Kurdischer Journalist soll nach Deutschland ausgeliefert werden. Ein Gespräch mit Yener Sözen
Interview: Gitta Düperthal
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Radikale Kritik an türkischen Verhältnissen unerwünscht: Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist in der BRD verboten

Am 7. August hat ein Gericht in Amsterdam entschieden, den kurdischen Journalisten Serdar Karakoç von den Niederlanden an Deutschland auszuliefern. Auf Ersuchen der deutschen Justiz erfolgte dort im Mai seine Festnahme wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Wie begründete das Gericht seine Entscheidung?

Nach der Festnahme in seiner Wohnung in Kerkrade beantragten wir zusammen mit seinem Verteidiger in den Niederlanden, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Serdar Karakoç lebt seit 24 Jahren als anerkannter Flüchtling in den Niederlanden. Er ist als Journalist tätig und hat einen Vollzeitjob als Lektor. Vorwürfe, die aus Deutschland erhoben werden, stellen in den Niederlanden gar keine terroristischen Handlungen dar. Am 14. Juni setzte das Gericht den Haftbefehl unter Auflagen außer Vollzug. Am 24. Juli räumte das Gericht zwar ein, die Vorwürfe gegen Herrn Karakoç seien in den Niederlanden nicht strafbar, erklärte aber, die deutschen Behörden müssten den Fall überprüfen. Am 7. August stimmte das Gericht der Auslieferung zu: Ein rechtsgültiger Haftbefehl liege vor. Die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung sei grundsätzlich auch in den Niederlanden strafbar.

Halten Sie das aus rechtlicher Sicht für angemessen?

Meiner Meinung nach werden solche Entscheidungen politisch gefällt. Ich halte die Haltung des Gerichtes, sich auf eine rechtspositivistische Grundlinie zurückzuziehen (wonach als Grundlage der Entscheidung nur dasjenige Recht gilt, das der Staat gesetzt hat, jW), für fatal. Betroffene können nicht konkret einschätzen, ob einzelne Handlungen, die sie in einem anderen EU-Land getätigt haben, strafbar sein könnten, wenn sie es nach dem Recht des EU-Landes, in dem sie hauptsächlich leben – in dem Fall den Niederlanden – nicht sind. Die strafrechtliche Verfolgung des Herrn Karakoç dient hauptsächlich der Wahrung außenpolitischer Interessen der Bundesrepublik. Die BRD legt den Terrorbegriff sehr weit aus. Durch den europäischen Haftbefehl wird diese Auslegung in die übrigen Mitgliedstaaten exportiert.

Welche Folgen hat das für Serdar Karakoç?

Er erschien nicht zum Termin am 7. August, sein Aufenthalt ist derzeit unbekannt. Die niederländischen Behörden haben gegen ihn einen eigenen Haftbefehl erlassen, der aus Deutschland ist weiterhin in Kraft. Es wird wahrscheinlich europaweit nach ihm gefahndet.

In Deutschland gilt die Pressefreiheit als besonders hohes Gut. Wie ist zu erklären, dass ein Journalist auf die Weise politisch verfolgt wird?

Die Pressefreiheit findet ihre Grenzen zunehmend durch vorherrschende politische Interessen. Die Verfolgung speziell von Journalisten aus der Türkei dient auch dazu, kritische Stimmen gegen die Verhältnisse dort zu ersticken. Radikal linke Kritik an den Verhältnissen in der Türkei ist in der Bundesrepublik politisch unerwünscht, weil es zu außenpolitischen Zerwürfnissen zwischen beiden Ländern führen könnte. Die strafrechtliche Verfolgung dient auch zur Abschreckung derer, die weiterhin schreiben.

Welche Rolle spielt die politische Entwicklung nach rechts in Europa dabei?

Aktuell ist die BRD weltweit neben der Türkei das eifrigste Land bei der Verfolgung türkischer und kurdischer Linker. Das Land nutzt seine führende Rolle in der EU, um vermehrt auch Menschen außerhalb der eignenen Staatsgrenzen zu verfolgen: etwa in Zypern, Belgien, Frankreich, Schweden und Italien. Der Fall Karakoç zeigt, wie gefährlich das für Journalisten ist. 2022 wurde die kurdische Journalistin Özgür Emre wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der DHKP-C inhaftiert. Das Verfahren vorm Staatschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf dauert an. Auch sie war vor der Verfolgung des türkischen Staates geflohen und als Flüchtling in der BRD anerkannt. Sogenannte 129 b-Verfahren finden weitgehend ohne Kenntnis der Öffentlichkeit statt. Auch die sogenannte deutsche Linke interessiert sich kaum dafür, obgleich sich der Verfolgungsdruck auch gegen sie verschärft.

Yener Sözen ist Anwalt in Gelsenkirchen und hat Serdar Karakoç in den Niederlanden vertreten

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  • Leserbrief von Sabine Tietze aus Köln (21. August 2024 um 11:06 Uhr)
    Die Rolle und das Verhalten der BRD sind erschreckend und wird viel zu wenig kommuniziert. Man fragt sich, ob der Rechtsruck nicht schon längst in den staatlichen Organen angekommen ist. Danke an Yener Sözen! Mutig!

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