»Diese Dinge müssen erkämpft und verteidigt werden«
Interview: Ina SembdnerSie leben seit 54 Jahren in Venezuela und sind seit Jahrzehnten aktiv in der Kommunistischen Partei PCV. Was treibt Sie nach Berlin?
Im Moment bin ich auf einer internationalen Europareise, als Präsident des Komitees für Internationale Solidarität und Kampf für den Frieden, COSI. Wir gehören dem Weltfriedensrat an und sind auch beim Menschenrechtsrat der UNO in Genf vertreten.
Sie waren lange Jahre auch Internationaler Sekretär des PCV und sind im Juli vom Zentralkomitee aus der Partei ausgeschlossen worden. Was ist passiert?
Sie kennen die Situation im Moment in Venezuela, und vor den Wahlen am 28. Juli gab es eine Entscheidung, die aufhorchen ließ. Das Politbüro, so heißt es bei uns noch im alten Stil, entschied, einen Kandidaten zu nehmen, den wir einerseits schon kannten, den wir aber dann weiter untersucht haben. Und er stellte sich als ultrarechts heraus. Ich wurde also gefragt, Carolus, warum nennst du ihn einen Faschisten? Bei uns wird Faschismus immer noch wenig thematisiert. Neben dem Hitlerfaschismus gibt es natürlich andere Formen, wie man sie auch in Chile erlebt hat. Eben, dass Leute wegen ihrer Hautfarbe oder wegen ihrer politischen Stellung ermordet werden. Und dieser Enrique Márquez war de facto die Spitze des Eisbergs, und nicht nur ich habe das gesagt, sondern praktisch unsere gesamte Parteigruppe.
Márquez hat eine Vorgeschichte. Ich kenne ihn seit 2002, damals war ich der Direktor für Internationale Beziehungen im Parlament, und der Mann war direkt beim Putsch gegen Hugo Chávez 2002 dabei. Er kommt von der Sozialdemokratie. Aber die Sozialdemokratie in Venezuela ist anders als hier in Europa – in den 60er Jahren wurden Hunderte von unseren Genossen von einer sozialdemokratischen Regierung ermordet. Also, dieser Kandidat der Kommunistischen Partei ist ein ultrarechter Kandidat? Hat das einen Sinn? Zweitens ist er Antikommunist. Er nennt etwa die Kubanische Revolution »tiranía castrocomunista«, und da kann ich nicht klatschen.
Vier Tage vor den Wahlen kam es dann zu dem Ausschluss, der schon weh getan hat im ersten Moment, aber dann lacht man darüber. Wir haben das auch auf einer Pressekonferenz öffentlich gemacht, was natürlich im normalen Parteiverhältnis verboten ist. Aber wir haben gesagt, dazu kann man nicht schweigen, weil ich zum Beispiel auch hier bekannt bin und die Freunde und Genossen sagen könnten: »Carolus, warum hast du nichts gesagt?«
Kommen wir zu den Wahlen, deren Rechtmäßigkeit von der Opposition und Washington in Frage gestellt wird …
Die Wahlen sind gelaufen. Es gibt natürlich verfassungsrechtliche Möglichkeiten und andere Gesetze – wer nicht einverstanden ist, kann diesen Weg gehen. Für uns sind die Wahlen rechtmäßig vonstatten gegangen. Es gab Tausende Kontrollen, und sicherlich können auch Fehler passiert sein, was es auch in anderen Ländern gibt. Aber man kann nicht die Leute auf die Straße rufen und Leute angreifen. 25 Tote bisher. Soweit ich weiß, speziell eben Mitglieder der Nationalgarde, aber auch Frauen wurden verletzt, die im Sozialwesen arbeiten. Darum nenne ich das vorsichtig Faschismus, weil du einfach angegriffen wirst, weil du dich im Sozialbereich kümmerst.
Hat die Regierung von Präsident Nicolás Maduro die Lage im Griff?
Am Montag nach dem Wahltag wurde wieder einmal versucht, das war ja zwischen 2014 und 2017 auch so, einen wirklichen Bürgerkrieg zu entfachen. Das ist kein Zufall, die USA sehen sich ständig dazu eingeladen. Dann gibt es die Organisation Amerikanischer Staaten, in der wir kein Mitglied mehr sind. Aber aus ihrer Sicht gibt es eben die Berechtigung, dass die Streitkräfte der anderen Länder hier einmarschieren können. Und generell gilt ja, die USA kommen rein, aber gehen nicht mehr raus.
Die Situation war also im ganzen Land relativ außer Kontrolle. In den Berichten, Videos etc. wird deutlich, dass nicht die Leute, die für die Opposition gestimmt haben, auf die Straße gingen, sondern Paramilitärs. Junge Leute, die mit Dollars angeheuert werden. In den Stadtvierteln zum Beispiel in der Hauptstadt Caracas, wo die Opposition präsent ist und Stimmen hat, war alles geschlossen. Die Leute haben Angst, dass noch einmal so etwas kommt wie in den Jahren 2014 und 2017. Denn es ist klar, sie verlieren dann ihre Arbeit, können ihre Läden nicht öffnen, ihre Kinder nicht zur Schule bringen. Also, es sind nicht immer hohe politische Themen, die sie motivieren, sondern die Angst um die Familie. Also gab es keine Unterstützung dafür.
Ein wichtiger Punkt sind die Streitkräfte, ohne die geht es in Lateinamerika nicht. In Bolivien zum Beispiel waren die Streitkräfte entscheidend dabei, den Putsch gegen Evo Morales zu unterstützen. Da hatten wir mit Jeanine Añez eine Präsidentin, die nicht gewählt, aber anerkannt wurde, auch von der Europäischen Union. Die Streitkräfte Venezuelas sind kein Block, aber schon mehrheitlich patriotisch, wie man es bei uns nennt, antiimperialistisch also. Das ist meine Erfahrung. Die lassen nicht zu, dass sich da plötzlich etwas entwickelt. Es standen ja schon Truppen an der Grenze zu Kolumbien. Brasilien war auch gefährlich, nicht Lula, aber er hat ja auch zu kämpfen mit seinen Streitkräften. Venezuela ist also stabil. Nicht, weil die Regierung irgendwelche Wunder vollbringt, sondern weil die Anhänger der Opposition befürchten, dass sich wieder etwas entwickelt, was Bürgerkrieg oder Krieg bedeuten könnte.
Wie lässt sich das Vorgehen der Opposition einordnen?
Wir haben einen »Guaidó 2.0«, was wirklich erstaunt, weil die Opposition generell besser dastehen könnte. Ich will jetzt nicht für sie sprechen, aber es gibt da gute Leute, die erscheinen aber nicht. Und plötzlich werden da irgendwelche Leader produziert. Speziell bei María Corina Machado hat man Angst, dass sie an die Macht kommt. Und es sind Leute, die wie Machado nicht in Venezuela leben. Sie lebt mit ihrer Familie in den USA, das ist dann noch unverantwortlicher, weil sie sagen können, okay, wenn es nicht klappt, haue ich ab. Und das müssen wir vermeiden. Wir sind Friedenskämpfer und verteidigen die Unabhängigkeit und Souveränität. Wir brauchen eine starke Opposition, aber keine Faschisten. Ich bin auch nicht im Regierungslager, aber alles muss im Rahmen unserer Demokratie und unseres Freiheitsgedankens passieren.
Die USA sind da anderer Meinung, aber es gab da einen interessanten Widerspruch. Ich vergleiche das immer mit den Olympischen Spielen. Du kommst als zweiter an und sagst, das Rennen muss wiederholt werden. Blinken erkannte Edmundo Gonzáles sofort als Sieger an. Einen Tag später sagte dann der Sprecher des Außenministeriums, wir sind noch nicht soweit, man spreche mit anderen Regierungen, speziell in Kolumbien und Brasilien. Ein offener Widerspruch im Außenministerium.
Wie schätzen Sie die Entwicklung der vergangenen Jahre ein?
Es gibt natürlich Kritik, aber die politische Bildung ist ziemlich gut, auch bei den einfachen Leuten. Ich wohne in einem kleinen Dorf auf dem Land in Venezuela. Da sprichst du mit den Nachbarn, und die können unterscheiden zwischen konstruktiver Kritik und dem Sturz einer Regierung. Würde es wirklich besser werden, wenn die Opposition an die Regierung kommt? Was würde sofort schlechter werden?
Eine sehr gute Politik hat schon mit Chávez angefangen: die Wohnungspolitik. Es wurden fünf Millionen Wohnungen gebaut für eben diese Familien, die keine Möglichkeit hätten, im Kapitalismus eine Wohnung zu haben. Es ist also eine riesige Anstrengung, dass die Leute wirklich aus den Armutsvierteln rauskommen, aber in ein kapitalistisches Gehirn passt es nicht rein, dass man Wohnungen verschenkt. International haben wir gute strategische Beziehungen aufgebaut, zu China, zu Vietnam, zu Russland, zu den ganzen »bösen« Staaten natürlich.
Diese Dinge müssen erkämpft und verteidigt werden. Die US-Generalin Laura Richardson hat dieses Jahr offiziell erklärt, man folge wieder der »Monroe-Doktrin«, die Obama ein bisschen in den Hintergrund gerückt hat. Natürlich sind die Zeiten anders als vor zehn Jahren. China hatte damals noch nicht diese politische und wirtschaftliche Kraft. Aber die ganzen Sanktionen wirken sich aus. Und die USA haben immer noch gefährliche Macht, das ist kein Papiertiger. Aber Venezuela ist jetzt offiziell den BRICS beigetreten, das ist schon eine Alternative.
Die direkte Einmischung der USA macht es natürlich schwerer, etwas Neues aufzubauen. Es werden sicherlich auch Fehler gemacht, oder es gibt Rückschritte. Aber man lernt dazu, und die Bevölkerung ist dabei, und die Venezolaner sind immer noch millionenfach Chávisten – sie folgen also dem Traum von Chávez, die Welt zu ändern. Dabei müssen wir zusammenhalten, weil weder die Regierung noch die Opposition allein von den fortschrittlichen Kräften getrennt, weiterkämpfen kann. Dann könnten wir alles verlieren.
Ich bin jetzt schon 54 Jahre in diesem Land, und ich kenne auch das andere Venezuela. In Caracas lebt eine halbe Million obdachloser Kinder. In dieser Hinsicht hat sich unwahrscheinlich viel verbessert, auch im sozialen Bereich. Aber natürlich, wenn dann plötzlich die Banken unser Geld haben und das venezolanische Gold in London beschlagnahmt und jetzt verkauft wird, leiden darunter das einfache Volk, die Arbeiter, die Angestellten, die Berufstätigen … Das, was Leute wie Machado, der berühmte Guaidó und andere machen, bringt unwahrscheinliches Leid für die Bevölkerung. Es wird also ein harter Kampf werden und muss es auch bleiben. Das Gegengewicht muss Frieden sein. Keiner will einen Bürgerkrieg. Der große Begriff »soziale Gerechtigkeit« muss sichtbar werden, die wirkliche Macht im Volk liegen. Dabei sind wir ziemlich weit vorangekommen, natürlich liegt noch immer ein langer Weg vor uns.
Carolus Wimmer ist Präsident des Komitees für Internationale Solidarität und Kampf für den Frieden, COSI. Zuvor war er Internationaler Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) und Abgeordneter der venezolanischen Nationalversammlung
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Gerhard M. aus Gerhard Mertschenk g.mertschenk@gmx.de (29. August 2024 um 13:19 Uhr)In dem Interview wird Carolus Wimmer zitiert: »Aber Venezuela ist jetzt offiziell den BRICS beigetreten, das ist schon eine Alternative.« Entweder ist das ein Übertragungs-/Übersetzungsfehler oder Carolus Wimmer irrt sich. Denn laut junge Welt vom 29.08.2024 (Maduros Regierung neu aufgestellt) erklärte América Pérez, Vizepräsidentin der venezolanischen Nationalversammlung, am 27.08.2024 auf dem BRICS-Kommunalforum in Moskau, dass ihr Land den Beitritt zum BRICS-Bündnis anstrebe. Eins ist klar: Mit einer BRICS+-Mitgliedschaft Venezuelas würden die US-Multis keinen Zugriff mehr auf die riesigen Erdölvorkommen Venezuelas haben. Schon jetzt entfallen 42% der Erdölvorkommen auf BRICS+-Mitgliedsstaaten, während nur 1,5% auf die G7-Länder entfallen. Mit einer Aufnahme in das BRICS+-Bündnis würde sich das Verhältnis für den von den USA angeführten Westen noch ungünstiger gestalten. Das wollen die USA nicht zulassen, weshalb sie anlässlich der Präsidentschaftswahl in Venezuela eine Kampagne starteten, um diese ihr lästige Maduro-Regierung zu beseitigen, sei es durch Verleumdung, sei es durch verschärfte Sanktionen, um Unzufriedenheit und Unruhe zu stiften, und damit das Land zu destabilisieren, oder sei es durch die fortgesetzte Unterstützung der extrem rechten Opposition einer María Corina Machado, die offen zu einer Intervention der USA aufruft. Mit einer solchen Regierung soll dann das Beispiel Argentinien wiederholt werden, wo die USA-hörige Milei-Regierung den Beitritt Argentiniens zum BRICS-Bündnis rückgängig machte, den die peronistische Mitte-links-Vorgängerregierung unter Alberto Fernández vollziehen wollte. Das steckt hinter den Phrasen von einer Wiederherstellung demokratischer Normen in Venezuela, wie sie von den USA gewünscht werden.
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