Spekulation auf Umsturz
Von Reinhard LauterbachMan könnte denken, die Ukraine hätte mit der Abwehr russischer Angriffe im Donbass und mit dem Halten ihrer Positionen im Kursker Gebiet genug zu tun. Aber Kiew hat mehr vor: In den vergangenen Tagen mehren sich ukrainische Drohungen mit einem »Eingreifen« gegen behauptete Konzentrationen der belarussischen Armee im grenznahen Gebiet Gomel. Zuletzt hat das Kiewer Außenministerium Belarus öffentlich aufgefordert, seine Truppen so weit zurückzuziehen, dass sie ukrainisches Territorium nicht mehr beschießen können. Ansonsten behalte sich die Ukraine vor, »im Einklang mit der UN-Satzung« von ihrem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch zu machen. Das ist starker Tobak: einem Land vorzuschreiben, wo auf seinem Gebiet es eigene Truppen stationiert.
Dem vorausgegangen waren gegenseitige Vorwürfen, den Luftraum des jeweils anderen Landes verletzt zu haben. Anfang August hatte Präsident Alexander Lukaschenko dann erklärt, die Lage habe sich »beruhigt«, Kiew habe seine »Provokationen« aufgegeben. Diese Schlussfolgerung könnte sich nun als zu optimistisch erweisen. Denn am Dienstag sagte der Leiter der ukrainischen Grenzbehörde im Kiewer Fernsehen, derzeit seien keine bedrohlichen Truppenbewegungen auf der belarussischen Seite der Grenze zu beobachten; aber die Grenze zu Belarus sei für die Ukraine ein »allgemeines Problem«. Das heißt, hier geht es um mehr und Prinzipielleres.
Von sich aus haben Belarus und sein Präsident bisher kein Interesse gezeigt, sich in den russisch-ukrainischen Krieg einzumischen. Russische Truppen haben zwar in der Anfangsphase 2022 belarussisches Territorium und den Luftraum des Landes für den Vorstoß auf Kiew genutzt, aber es waren keine Truppen aus Belarus an ihm beteiligt. Später zog sich Lukaschenko sogar den Unmut Moskaus zu, weil belarussische Raffinerien die ukrainische Armee mit – aus russischem Öl hergestelltem – Treibstoff versorgt haben. Lukaschenko hat auch mehrfach erfolglos versucht, sich als Vermittler ins Spiel zu bringen.
Für seine militärische Zurückhaltung hat er gute Gründe. Seine Armee ist mit geschätzten 60.000 Soldaten weit kleiner als die ukrainische, zudem soll ihr Ausbildungsstand schlechter sein. Auch könnte spekuliert werden, ob die Armee einen Einsatzbefehl gegen die Ukraine überhaupt befolgen würde. Die polnische Zeitung Rzeczpospolita brachte am Dienstag einen geradezu blutrünstigen Leitartikel, in dem Chefredakteur Bogusław Chrabota, der nach eigener Aussage über gute Militär- und Geheimdienstkontakte verfügt, Lukaschenko das Schicksal von Muammar Al-Ghaddafi oder Nicolae Ceaușescu voraussagt, falls er sich zu einer Beteiligung am Krieg gegen die Ukraine hinreißen lassen sollte. Auf ukrainischer Seite kämpften einige tausend gut geschulte belarussische Freiwillige, überwiegend Veteranen des versuchten Regimewechsels im Herbst 2020. Diese seien hochmotiviert, Lukaschenko auch mit Gewalt zu stürzen – »echte Killer«, wie der Autor rühmt.
Unabhängig von ihrem Realitätsgehalt zeigt die Tatsache solcher Veröffentlichungen, wohin zumindest Teile des Westens die Entwicklung drehen wollen: zu einer Wiederholung des damaligen Regime-Change-Versuchs. Sein Gelingen wäre zweifellos ein harter Schlag für Russland: Es verlöre etwa 600 Kilometer strategische Tiefe (die Entfernung von Brest bis Orscha), die Chance, bei einer eventuellen Blockade Kaliningrads durch die NATO über belarussisches Gebiet einen Landzugang dorthin freizukämpfen, und seinen letzten Verbündeten im postsowjetischen Raum. Um eine solche Entwicklung zu verhindern, müsste Russland zumindest einige zehntausend eigene Soldaten in Belarus stationieren – was sie dem Einsatz in der Ukraine entziehen würde.
Ein Plan, Belarus zu destabilisieren, um Russland zu schwächen, passt jedenfalls perfekt in eine Strategie, die vor etwa zwei Wochen das dem Pentagon nahestehende »Institute for the Study of War« in Washington skizziert hat: Russland, dessen Führung sich bisher als risikoscheu und vorsichtig erwiesen habe, durch Druck vor unangenehme bis unmöglich zu realisierende Alternativen zu stellen und dadurch die Möglichkeit politisch-strategischer Fehlentscheidungen zu provozieren. Mit anderen Worten: Ohne solche Provokationen droht Russland zu gewinnen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (30. August 2024 um 12:08 Uhr)Dass die Ukraine Lukaschenko vorschreiben will, wo die Belarussen in ihrem Land ihre Soldaten stationieren dürfen, ist natürlich bar jeder völkerrechtlichen Legitimität. Zu den im Artikel erwähnten Hintergründen sind ein paar Punkte zu ergänzen. Nachdem Kiew die militärische Rückeroberung von Krim und Donbass Frühjahr 2021 in seine Militärdoktrin als Option aufgenommen hatte, da hatte bereits der Westen den Russen vorschreiben wollen, wo sie ihre Soldaten in ihrem Land stationieren dürfen und wo nicht. Als Lawrow deswegen die damalige britische Außenministerin Truss nach der russischen Souveränität über die Regionen Rostow und Woronesch fragte, bekam er zur Antwort, dass London Russlands Souveränität über diese Gebiete niemals anerkennen werde. Tatsächlich gehörten die Regionen Rostow und Woronesch – wie übrigens auch die Krim, Süd-Kursk und das belarussische Gomel – ca. von 1917 bis 1919 zur vom deutschen Kaiser miterschaffenen Großukraine. Wo heute manch Preußenfurz – von Garnisonskirche bis Berliner Schloss – hochgejubelt wird, wird man kaum fehlgehen, auch den großukrainischen Träumen der Kiewer Nationalisten Wirkmacht zuzusprechen, eine Wirkmacht, vor der Putin bereits am Rande seiner Rechtfertigung des russischen Eingreifens in den Donbass-Krieg gewarnt hatte. Rund hundert Jahre alte Ansprüche auszugraben und als Rechtfertigung für Krieg zu nehmen, das hatte übrigens auch Friedrich der Große fertig gebracht, als er mit dem siebenjährigen Krieg eine Art Weltkrieg lostrat, um Schlesien zu erobern. Die Ukraine scheint ebenfalls bereit zum Weltkrieg zu sein, wenn sie – deutlich vor dem russischen Kriegseintritt – der NATO die Luftraumkontrolle über der Krim andienen wollte. Das Wort von der »Selbstverteidigung« hat oft einen sehr fragwürdigen Beigeschmack und kaschiert nur aggressive Absichten. Man kennt das von Hitler in Polen oder den USA in Afghanistan und im Irak. Im Fall Ukraine stellt u. a. auch Kiews Torpedierung der Minsker Abkommen entsprechende Fragen.
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