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Aus: Ausgabe vom 28.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Politisches Buch

Nicht vor meiner Haustür!

Das müssen sie sein, die Ausländer: Der Historiker Klaus Neumann erzählt in »Blumen und Brandsätze« eine deutsche Geschichte von 1989 bis 2023
Von Patrick Hönig
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Demo gegen rassistische Übergriffe auf Geflüchtetenunterkünfte in Rostock-Lichtenhagen (Rostock, 29.8.1992)

Auf felsiger Anhöhe präsentiert sich der blondgelockte Mann in Caspar David Friedrichs Ölgemälde »Der Wanderer über dem Nebelmeer«, im Rücken den Betrachter, vor sich die Gipfel der Berge im Nebel. Im Oktober 2015, nach dem »langen Sommer der Migration«, montierte eine deutsche Illustrierte eine Ansammlung dunkelhaariger Männer, Frauen und Kinder in die Berglandschaft und titelte: »Wie viele Geflüchtete verträgt Deutschland?«

Der Historiker Klaus Neumann wählt diese kuriose Anekdote als Entree für seine vielseitige Auseinandersetzung mit einem Thema, das die Gemüter in Deutschland immer wieder aufs neue erhitzt: die Aufnahme Schutzsuchender aus Kriegs- und Krisenregionen fern der eigenen Grenzen. Akribisch wertet er Aktenvermerke und Medienberichte aus, zitiert aus Gesprächsprotokollen und schildert Beobachtungen politischer Versammlungen, alles wohlgemerkt nicht aus luftiger Höhe, sondern aus der Froschperspektive. Im Reißverschlussverfahren verteilt er das über den Bezirk Hamburg-Altona und den Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge gesammelte Material auf ein Dutzend Kapitel und formt ein Panoptikum, das viel über die Graswurzelarbeit des politischen Betriebs verrät, vom Vorabend der Wiedervereinigung bis zu den jüngsten Muskelspielen rechtsextremer Parteien in Räten und Bezirksversammlungen.

Die Idee, sich in die Niederungen der Kommunalpolitik zu begeben, um Erkenntnisse über den Umgang mit Geflüchteten zu gewinnen, ist angesichts der Bundeskompetenz in der Ausgestaltung des Asyl- und Ausländerrechts ungewöhnlich, zahlt sich aber aus. Wo und wie Geflüchtete nach ihrer Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsgestattung oder Duldung untergebracht werden, entscheidet sich in den Kommunen, unter Aushandlung widerstreitender politischer Interessen. ­Containerdörfer, Pavillonsiedlungen und Trailerparks zeugen vom Desinteresse, das man Geflüchteten entgegenbringt. Zuweilen werden aber Lösungen gefunden, die innovativ und nachhaltig sind. Der Bau von Sozialwohnungen, in die Flüchtlinge einziehen und nach Erwerb eines Aufenthaltstitels auch bleiben können, gehört ebenso dazu wie die akzeptanzerhöhende dezentrale Unterbringung Schutzsuchender.

Man erfährt in »Blumen und Brandsätze. Eine deutsche Geschichte, 1989−2023« darüber hinaus, was in den Bezirksversammlungen in Altona zur Bundespolitik beschlossen wurde und wer sich für Schutzsuchende eingesetzt hat im »Tal der Ahnungslosen«, wie man das Dresdner Elbtal vor der »Wende« nannte, weil es keinen Westempfang gab. Und wie auch nach der Wiedervereinigung die überregionalen Medien, viele mit Redaktionen in der Hauptstadt und den westdeutschen Ballungszentren, mit ihrer Berichterstattung über lokale Ausschreitungen gegen Geflüchtete Informationspolitik betrieben haben. Reportagen über Gewaltexzesse in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen Anfang der 1990er Jahre beließen es nicht bei einer Beschreibung der Taten, sondern lieferten frei Haus auch ein Sozialporträt der Menschen »im Osten«. Rassisten wurden in ihrem natürlichen Habitat gezeigt, flankiert von »Frauen in wattierten Bademänteln« und einem »Mann in fleckiger Hose«. Die Angriffe, die im gleichen Zeitraum auf Geflüchtete im saarländischen Saarlouis, im nordrhein-westfälischen Hünxe oder in Mannheim-Schönau verübt wurden, fanden in den Medien, aber auch in der Politik ein ungleich kleineres Echo.

Zu den bedrückendsten Passagen zählt die Beschreibung der Aufenthaltsqualität so mancher Unterkunft, die Geflüchteten zugemutet wurde und weiter zugemutet wird. Es verstört, zu erfahren, dass die Klage über Schimmel an den Wänden, auch wenn sie von Besuchern kommt, zu Hausverbot führen kann, und die Unterbringung Hunderter Schutzsuchender auf »Wohnschiffen«, in Kabinen mit Etagenbetten, kann auch nicht schönreden, wer sich Namen ausdenkt wie Casa Marina oder Bibby Altona. Wenn man sich wenigstens nachträglich schämt, macht man aus einem solchen schwimmenden Klo eine Gedenkstätte.

Mit politischen Bewertungen hält Neumann sich zurück, aber es wird deutlich, dass er Bedenken hat, wenn gut vernetzte und medienaffine Bildungsbürger Initiativen ins Leben rufen, um mit der lokalen Politik Deals zu machen, ohne Rücksicht darauf, dass ihnen mit der Zeit die »demokratische Legitimation« ausgeht. Und er gibt offen zu, dass er seine Forschungshypothese nicht aufrechterhalten kann. Als er das Projekt nach langjähriger wissenschaftlicher Tätigkeit in Australien 2018 begann, war er überzeugt, dass Deutschlands Weg von den Brandsätzen zu den Blumen führen werde. Seither ist die Zahl der Gewalt­taten gegen Geflüchtete rasant gestiegen, und im politischen Diskurs hat eine Verrohung stattgefunden, die sich in tätlichen Angriffen auf Plakatkleber entlädt. Vielleicht geht die Tendenz also eher in die andere Richtung.

Lösungen bietet das Buch nicht an, aber im Schlusskapitel weitet sich der Blick. Man werde sich verabschieden müssen von der Vorstellung, befördert durch Filterblasen und Echokammern in den sozialen Medien, auf die drängenden Fragen einer globalisierten Welt könne es einfache Antworten geben. Es stehe nicht in der Macht einer deutschen Regierung, von heute auf morgen Kriege und die Herrschaft von Terrorregimen zu beenden. Für die Minderung von Fluchtursachen werde es langfristige Konzepte brauchen. Und es gibt Vorschläge, wie sich miteinander reden lässt. Der Autor wirbt für einen Dialog, der auf den Prinzipien Achtsamkeit, Gastlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit gründet.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Überlegung, dass Menschen ihre Würde nicht verlieren, nur weil sie aus Not, Verzweiflung und Angst vor Verfolgung ihre Heimat aufgeben und eine Reise ins Ungewisse antreten. Eine Selbstverständlichkeit eigentlich, aber in einer Buchvorstellung am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen demonstriert Neumann die Macht der Narrative. Er erzählt die Geschichte einer Frau, die ihn in einer Tausend-Seelen-Gemeinde auf seine Recherchen anspricht und glaubt, einen der Ihren gefunden zu haben. Es seien so viele Geflüchtete gekommen, man sei bald im eigenen Land nicht mehr zu Hause, sagt sie. Er schaut sich auf der Straße um, aber da ist niemand, dem man ansehen könnte, dass er von irgendwoher geflohen ist.

Die künstlerische Umsetzung dieser Realsatire gelang der Biennale in Istanbul bereits im Herbst 2013. Inmitten großformatiger Installationen war eine unscheinbare Zeichnung plaziert, die im Katalog nicht auftaucht. »The Foreigners Enter The City« heißt es in krakeliger Schrift auf dunklem Grund, und an einem Fenster mit geöffneten Läden zieht eine Tierkarawane vorbei: Giraffen, Kamele und ein Esel. Das müssen sie sein, die Ausländer. Kaum vorstellbar, dass man ihnen, wie im Osterzgebirge zwei Jahre später geschehen, zur Begrüßung »Brot und Salz« reicht.

Klaus Neumann: Blumen und Brandsätze. Eine deutsche Geschichte, 1989–2023. Hamburger Edition, Hamburg 2024, 512 Seiten, 40 Euro. Oder: Sonderausgabe für die Zentralen für politische Bildung, für Einwohner der Länder Schleswig-Holstein (drei Euro) und Sachsen (kostenfrei).

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