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Aus: Ausgabe vom 28.08.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Ungleicher Tausch

Von Daniel Bratanovic
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Ist dieser Tausch ungleich? Das kommt auf die Begriffsbestimmung an

Zu Beginn des im Jahr 1958 erschienenen Lucky-Luke-Albums »Auf nach Oklahoma« verhandeln die Häuptlinge der Fünf Zivilisierten Nationen mit einem Abgesandten der US-Regierung um die Abtretung des letzten Indianerterritoriums der USA im Gebiet des heutigen Bundesstaates ­Oklahoma. Am Ende der unwürdigen Feilscherei sind sich beide Seiten handelseinig. Der Staat nennt nun weiteres Siedlungsgebiet sein eigen, die Häuptlinge stehen vor einem Berg wertloser Glasperlen. Abgesehen davon, dass den Indianern in der historischen Wahrheit des im Band thematisierten »Oklahoma Land Run« ab 1889 weitaus übler mitgespielt wurde, scheint hier eine Ungerechtigkeit auf: Der weiße Mann übervorteilt die Ureinwohner, erhält zu kolonisierendes Land, während die mit Ramsch, Plunder und Nippes abgespeist werden. Der ungleiche Tausch in der vereinfachten Darstellung eines Comicstrips.

In der kritisch-materialistischen Theorie ist der Begriff ungleich komplexer. Der »ungleiche Tausch« taucht als Argumentationsfigur im Umfeld der Dependenztheorie auf und dort zum ersten Mal bei Arghiri Emmanuel im Jahr 1972. Die Anhänger der Dependenztheorie sahen sich mit der Frage konfrontiert, warum nach der Welle der Dekolonisierung die kapitalistische Peripherie von den kapitalistischen Zentren abhängig blieb. Solche Abhängigkeit beobachteten sie selbst im Falle von partiell industrialisierten Nationen. Angenommen wird dabei ein ständiger Werttransfer von der Peripherie in die Zentren.

Emmanuel unterstellt nun, dass Kapital international mobil ist, die Arbeit hingegen nicht. Unter diesen Umständen gleichen sich die Profitraten auf internationaler Ebene tendenziell an, während die Löhne entsprechend der konkreten historischen Bedingungen von Land zu Land verschieden bleiben. Der Ausgleich der Profitraten und Bildung von internationalen Produktionspreisen auf der einen und national unterschiedliche Löhne auf der anderen Seite führen nach Emmanuel zu einem Mehrwerttransfer von den Ländern mit niedrigeren Löhnen zu denen mit höheren. So stellt sich für ihn der ungleiche Tausch in der internationalen Arbeitsteilung dar, den er als Ausbeutungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie qualifiziert. Aus dieser Feststellung zieht Emmanuel den Schluss, dass eine exportorientierte Industrialisierung und eine Diversifizierung der Exporte für ein abhängiges Land nicht zielführend sind. Statt dessen gelte es, sich vom Weltmarkt abzukoppeln, Importe zu substituieren und Löhne zu steigern, um damit die Produktivitätssteigerung in Gang zu setzen. Schon an dieser Stelle lässt sich sagen: Das Beispiel Chinas widerlegt diese Theorie in der historischen Praxis.

Kritisiert wurde an Emmanuels Ansatz mehrerlei. Der Kritik des ungleichen Tauschs wohnt die Vorstellung von der Existenz eines gleichen und gerechten Tauschs inne. Dabei zeigte Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie, dass beim Warentausch in der Regel nie äquivalente Wertgrößen ausgetauscht werden. Überhaupt werde zwischen Tausch, Werttransfer und Ausbeutung nicht sauber unterschieden. Der Tausch ungleicher Arbeitsquanta findet immer statt, wenn ein Unternehmen durch neue Technik produktiver, also mit geringerer Arbeitszeit operiert, als bisher im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendig war. Das ist allerdings kein Werttransfer. Vielmehr gilt: Unterschiedliche Arbeitsmengen vergegenständlichen sich hier bei gleicher Wertgröße. Und tatsächlicher Mehrwerttransfer zwischen Kapitalisten innerhalb der Zirkulationssphäre wiederum ist nach Marx keine Ausbeutung.

Politisch jedenfalls bedeutet Emmanuels Theorem vom ungleichen Tausch eine Absage an das Proletariat der Zentren als revolutionäres Subjekt, da es vom Mehrwerttransfer profitiere. Lenins Modell einer Arbeiteraristokratie als einer kleinen, gleichsam bestochenen Schicht wird damit gedehnt. Heute wird gelegentlich noch mit der Figur des ungleichen Tauschs hantiert, um fortbestehende neokoloniale Abhängigkeiten zu kritisieren. Wie schon bei der Dependenztheorie erscheint hier der Hauptwiderspruch als derjenige zwischen ­imperialistischen und abhängigen Staaten.

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