»Nie wieder« für alle
Von Annuschka EckhardtGrundrechte einschränken unter dem Vorwand der Antisemitismusbekämpfung – egal, ob verfassungswidrig oder nicht – ist seit dem 7. Oktober 2023 beliebter als jemals zuvor. Nicht nur Asylsuchende und Migranten sollen sich zum Staat Israel bekennen, auch Künstler und Wissenschaftler könnten bald keine Kritik mehr am Genozid in Gaza, am Siedlerkolonialismus oder an der mit Faschisten durchsetzten israelischen Regierung üben dürfen, falls sie von staatlichen Fördermitteln abhängig sind.
Gegen die geplante Bundestagsresolution »Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken«, formiert sich Widerstand. Die Gegner der geplanten Gesinnungsprüfung für Kunstschaffende und Forschende haben zwei prominent unterzeichnete Appelle verfasst, in denen sie einen Stopp oder zumindest eine Überarbeitung des Resolutionsentwurfs der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP fordern.
Der erste Appell wurde von in Deutschland lebenden jüdischen Künstlern, Autoren und Wissenschaftlern verfasst und unterschrieben, die die Instrumentalisierung ihres Jüdischseins für weitere reaktionäre Staatsmaßnahmen nicht akzeptieren wollen: »Der aktuelle Resolutionsentwurf ist gefährlich. Er wird die freie Meinungsäußerung abwürgen, Deutschland vom Rest der demokratischen Welt isolieren und ethnische und religiöse Minderheiten weiter gefährden, insbesondere unsere arabischen und muslimischen Nachbar*innen, die bereits zur Zielscheibe brutaler Polizeigewalt geworden sind«, so die Verfasser. Unterzeichnet wurde er – neben mehr 150 anderen (Stand Freitag nachmittag) – auch von prominenten Personen, wie dem Violinisten Michael Barenboim und dem ehemaligen Grünen-Bundestagsabgeordneten Jerzy Montag.
Der zweite Appell wurde von der Akademie der Künste gemeinsam mit zahlreichen Kulturverbänden, Organisationen, Vereinen und Vertretern aus Kunst und Wissenschaft unterzeichnet, unter anderem von der Lit.Cologne, Medico International und dem European Media Art Festival. »Durch die autoritative Verwendung der sehr weitreichenden und gleichzeitig unscharfen IHRA-Arbeitsdefinition (Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance, jW) als Regulierungsinstrument, sowie durch die unklare Frage faktischer Bindung einer Bundestagsresolution, droht sie enorme Verunsicherung mit sich zu bringen und zum Verstummen jener Stimmen zu führen, die durch entsprechende Ansätze geschützt werden sollen«, heißt es in dem Aufruf.
Der Resolutionsentwurf sei ein weiterer durchsichtiger Versuch, die freie Meinungsäußerung über Israel unter dem Deckmantel der Antisemitismusbekämpfung einzuschränken, sagte Wieland Hoban, Vorsitzender des Vereins »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« am Freitag gegenüber junge Welt. »Dass der Entwurf zu einer Zeit kommt, in der Israel einen Genozid begeht, ist natürlich kein Zufall, da jetzt diese Kritik besonders laut und notwendig ist – aber die Staatsräson, die dem Staat und nicht der Bevölkerung dient, will nicht, dass dieser Völkermord, an dem er selbst beteiligt ist, beim Namen genannt wird«, so Hoban, der beide Appelle unterzeichnet hat.
Für die jüdischen Unterzeichner des ersten Aufrufs ist klar: »Wenn es eine Lehre aus der Katastrophe des Holocausts gibt, dann ist es diese: ›Nie wieder‹ bedeutet ›nie wieder für alle‹.«
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