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Aus: Ausgabe vom 31.08.2024, Seite 15 / Geschichte
Wiederbewaffnung

Paris sagt nein

Vor 70 Jahren scheiterte die Wiederbewaffnung Westdeutschlands im Rahmen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft am Votum der französischen Nationalversammlung – vorerst
Von Michael Henkes
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Ein Straflager, eine Kaserne für die Jugend! So würde Frankreich aussehen. Plakat der Republikanischen Jugend Frankreichs gegen den EVG-Vertrag

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war unter der deutschen Bevölkerung eine antimilitaristische Grundhaltung weit verbreitet. Angesichts der Trümmerlandschaften und der Verluste, die so gut wie jede Familie zu beklagen hatte, war ein großer Teil der Deutschen der Überzeugung, es dürfe nie wieder zu einem Krieg kommen.

Solche pazifistischen bis antimilitaristischen Einstellungen waren indes den westdeutschen und US-amerikanischen Eliten zuwider. Schon während des Krieges hatte sich abgezeichnet, dass die Nachkriegszeit vom Konflikt zwischen dem US-dominierten Imperialismus auf der einen und den sozialistischen Staaten auf der anderen Seiten bestimmt sein würde. Den westdeutschen Besatzungszonen kam dabei eine strategisch bedeutende Rolle zu. Nicht nur, dass hier an der Frontlinie zwischen Ost und West rund 50 Millionen Menschen lebten. Trotz der Zerstörungen des Krieges verfügte Westdeutschland nach wie vor über ein beachtliches ökonomisches Potential, insbesondere in der für die Rüstung relevanten Schwer- und Chemieindustrie. Entsprechend groß war das Bedürfnis der USA, die (spätere) BRD wiederzubewaffnen.

Breite Bewegung

Dieser Remilitarisierung standen aber nicht nur breite Teile der Bevölkerung, insbesondere die Arbeiterbewegung, entgegen. Bis hinein in Teile des national orientierten Bürgertums, das in einer westlich gesteuerten Wiederbewaffnung die Absage an die Möglichkeit einer deutschen Einheit erkannte, reichte ihre Gegnerschaft. Auch die Bevölkerungen jener Länder, die Nazideutschland wenige Jahre zuvor überfallen hatte, standen einer Aufrüstung der BRD mehr als skeptisch gegenüber. Vor allem in Frankreich stießen solche Pläne auf Ablehnung; die Front reichte von den Kommunisten bis hin zu den Gaullisten.

Unter dem Druck der USA und Großbritanniens schlug schließlich der französische Ministerpräsident René Pleven 1950 vor, dass die Benelux-Staaten, Frankreich und Italien ihre Truppen im Rahmen einer Verteidigungsgemeinschaft zu einer europäischen Armee zusammenlegen sollten. Während die westdeutschen Truppen vollends in den Strukturen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) aufgehen würden, sollten Frankreich autonome Strukturen zugebilligt werden. Das deutsche Militär sollte zwölf Divisionen, 1.350 Flugzeuge und eine 12.000 Mann starke Marine umfassen.

Die herrschenden Kreise um Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) erkannten in den EVG-Plänen die Möglichkeit, nicht nur zur erwünschten Wiederbewaffnung, sondern auch zu mehr staatlicher Souveränität zu gelangen. Deshalb verbanden sie die Unterzeichnung des EVG-Vertrages im Mai 1952 mit der Forderung nach einem Ende des alliierten Besatzungsstatuts und der Errichtung eines eigenständigen Verteidigungsministeriums.

Den Vertretern der Bonner Koalitionsregierung aus CDU/CSU, FDP und Deutscher Partei (DP) war wohl bewusst, dass die Pläne zur Wiederbewaffnung auf Widerstand aus der Bevölkerung stoßen würden, sie wurden aber doch von der Heftigkeit des Protests überrascht. Wolfgang Abendroth schrieb rückblickend: »Allmählich entstand in der Bundesrepublik eine außerordentlich breite Bewegung gegen die Wiederbewaffnung – die breiteste Volksbewegung, die es in der BRD je gegeben hat. Antiatombewegung, Antinotstandsbewegung und alle anderen späteren Kampagnen haben nicht den gleichen Umfang und die gleiche Intensität erreichen können.«

SPD laviert

Auf parteipolitischer Ebene stellte sich die KPD am vehementesten gegen die Verträge. Sie sah in ihnen die endgültige Aufgabe der deutschen Einheit und den Ausdruck einer Militärpolitik, die Deutschland zum Schlachtfeld eines dritten Weltkriegs machen würde. Auch in der SPD war man zunächst gegen die EVG-Pläne. Wenn auch große Teile des SPD-Parteivorstandes grundsätzlich mit der westlich orientieren Politik Adenauers übereinstimmten, übten seine Vertreter doch Kritik an einzelnen Bestimmungen der Verträge, vor allem aber mussten sie der Stimmung an der Parteibasis gerecht werden.

Abseits des Parlamentes aber sah die SPD sich nicht genötigt, Widerstand zu organisieren und schlug alle Vorschläge der KPD aus. Auch der DGB-Vorstand hielt es ähnlich: Während die lokalen und regionalen Strukturen auf eine entschiedene Haltung gegen die Wiederbewaffnung drängten, lavierte der Bundesvorstand. Mehr noch, manche Vertreter wie der Bundesvorsitzende Christian Fette nahmen öffentlich Stellung für die Remilitarisierung. An der Haltung der Mehrheit der Mitglieder änderte das aber nichts. So lehnte der DGB-Bundeskongress 1954 eine Wiederbewaffnung grundsätzlich ab. Zentral organisierte betriebliche Proteste oder gar Streiks blieben dennoch aus.

Der opportunistischen Haltung führender Persönlichkeiten der SPD und des DGB zum Trotz wuchs der Widerstand auf der Straße und in den Betrieben. Es kam zu lokalen Arbeitsniederlegungen, Versammlungen und Kundgebungen in der gesamten BRD. Die Volksbefragungsbewegung ist dabei nur eines, wenn auch ein herausragendes Beispiel. Auf Initiative des Theologen und ehemaligen Sachsenhausen-Häftlings Martin Niemöller und mit Unterstützung von sozialistischen Jugendorganisationen wie der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und der Naturfreundejugend wurde die Haltung derjenigen ermittelt, die schließlich am meisten von einer Remilitarisierung betroffen wären: die Bevölkerung selbst. Trotz Verbots der Initiative und der FDJ (1951), trotz des Antrags auf ein KPD-Verbot (1951) und einer Strafrechtsverschärfung mit dem Straftatbestand »Staatsgefährdung«, der sich klar gegen die Antimilitaristen richtete, nahmen Millionen von Menschen an der Abstimmung teil. Mehr als neun Millionen stimmten dabei gegen die Remilitarisierung.

Am 27. Mai 1952 unterzeichneten die Regierungen von Belgien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden, Italien und der Bundesrepublik Deutschland den Vertrag zur Gründung der EVG. Auf die Unterzeichnung folgte die Ratifizierung in den Parlamenten. Doch der wachsende Widerstand auch in Italien, Belgien und Frankreich machte den Kriegsbefürwortern einen Strich durch die Rechnung. Während der Vertrag am 19. März 1953 vom Bonner Bundestag mit 226 Jastimmen (bei 164 Neinstimmen) ratifiziert wurde, scheiterte das Vorhaben an den französischen Parlamentariern. In Frankreich fürchtete man nicht allein ein Wiedererstarken des deutschen Militarismus, sondern lehnte auch ein Aufgehen der französischen Streitkräfte in einer Europaarmee unter Führung der US-dominierten NATO ab. So scheiterte am 30. August 1954 der EVG-Vertrag in der französischen Nationalversammlung.

Die Wiederbewaffnung fand wenig später dennoch statt: In den Pariser Verträgen von 1954 wurde sowohl das vorläufige Aus für die deutsche Einheit als auch die Einbindung der BRD in die NATO geregelt – allem Widerstand zum Trotz. Im November 1955 wurde die Bundeswehr gegründet, ein Jahr später die Wehrpflicht eingeführt.

Wiedervereinigt und unabhängig

»Die Kommunistische Partei Deutschlands erstrebt den Zusammenschluss der Bevölkerung Westdeutschlands zum Befreiungskampf um die nationale Wiedervereinigung Deutschlands mit folgenden Zielen:

Wiedervereinigung Deutschlands als einheitlicher, demokratischer, friedliebender, unabhängiger Staat und Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland.

1. Sofortige Herbeiführung der Verständigung zwischen West- und Ostdeutschland mit dem Ziel der unverzüglichen Durchführung freier, gesamtdeutscher Wahlen zur Nationalversammlung und des gemeinsamen Auftretens West- und Ostdeutschlands mit der Forderung auf beschleunigten Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland und Abzug aller Besatzungstruppen. (…)

5. Alle Besatzungstruppen verlassen nach Abschluss des Friedensvertrages das Territorium Deutschlands.

6. Kein auswärtiger Staat besitzt das Recht, Militärstützpunkte auf deutschem Territorium zu unterhalten.

7. Zum Schutze seiner Unabhängigkeit, seiner friedlichen Arbeit und der Sicherung seines Territoriums erhält das deutsche Volk das Recht, eigene nationale Streitkräfte aufzustellen. (…)

8. Das deutsche Volk lehnt es ab, sich an Militärbündnissen zu beteiligen, die sich gegen einen anderen Staat richten. (…)«

Programm der KPD zur nationalen Wiedervereinigung Deutschlands (2. November 1952)

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