Kriegsspiele für Journalisten
Von Dieter ReinischÖsterreich ist ein neutrales Land – auf dem Papier, irgendwie noch. Es war eine Forderung der Sowjetunion in der Moskauer Deklaration in Vorbereitung des Staatsvertrages und des Abzugs der Besatzungstruppen aus Österreich 1955. Am 26. Oktober wird dies alljährlich am Nationalfeiertag gefeiert. Doch die »Partnerschaft für den Frieden« mit der NATO, Unterstützung von Militäreinsätzen der EU und zuletzt der Beitritt zum Luftverteidigungssystem »European Sky Shield Initiative« lassen die Neutralität zunehmend als leere Hülse zurück.
Historisch war und ist Österreich an den Einsätzen der Vereinten Nationen im Kosovo, Libanon oder auf den von Israel besetzten syrischen Golanhöhen beteiligt. Ohne UN-Mandat waren Soldaten und Polizisten auch in Afghanistan dabei: »Ein paar Ausbildner«, ist das dazu in der Öffentlichkeit gängige Bild. Doch wie sehr sich österreichische Soldaten an militärischen Einsätzen im Ausland tatsächlich beteiligen, bleibt weitgehend verborgen.
»Ich hoffe, alles, was sie in den letzten drei Tagen bei uns gelernt haben, werden sie nie in ihrem Leben brauchen«, verabschiedet sich Oberst Rudolf Weissenbacher. Vor ihm im Seminarraum der Lehrgruppe IV des Jagdkommandos sitzt im April dieses Jahres eine müde Schar von 15 Journalisten: Tiefe Augenringe, ungewaschene Haare und stechender Schweiß- und Sandgeruch nach fast genau 53 Stunden nahezu ohne Körperpflege und Schlaf. Gestört hat das die Anwesenden in dem Moment kaum, denn ich und meine 14 Kollegen waren gerade vom Jagdkommando des Österreichischen Bundesheers (ÖBH) nach fast zwölfstündiger Geiselhaft befreit worden und mittels drei Hubschrauberflügen aus der Gefahrenzone in der Wallenstein-Kaserne Götzendorf in morgendlichen Flügen über das südliche Niederösterreich in die Wiener Neustadt evakuiert worden.
Die Geiselnahme war Teil des Outdoorseminars »Journalisten im Einsatz«. Es sollte uns auf den Einsatz in Krisen- und Katastrophengebieten vorbereiten. Geleitet wurde es von der Lehrgruppe IV des Jagdkommandos, also jenen österreichischen Soldaten, die Erfahrungen mit Einsätzen in Afghanistan, Jordanien, im Tschad und zuletzt in Mali haben. Wir selbst hatten unterschiedlichen Background: Fernsehen, Foto, Radio und Print – öffentlich-rechtliche Sender, private Kanäle, soziale Medien, Tageszeitungen und Fachjournale.
»Wilde Hunde« mit Waffen
»Einmal fuhren wir vom Süden her in der Grenzregion auf einen malischen Grenzstützpunkt auf«, erzählt mir ein Soldat am Rande eines Vortrags. »Wenn da ein großer Militärkonvoi vom Süden her sich der Grenze nähert, ist das natürlich gefährlich. Du weißt nie, wie die beim Grenzposten reagieren. Ich hatte also eine Idee. Auf den Wagen gibt es diese riesigen, meterhohen Antennen. Wir haben unsere größte EU-Fahne darauf angebracht, damit die gleich von weitem sehen, wer wir sind.« Die EU-Fahne hat die österreichischen Soldaten dann nicht gerettet, denn: »Das Problem war, viele von denen dort, die kennen ja gar nicht die EU-Fahne und wissen nicht, was das ist.« Dennoch kamen die Österreicher ohne Beschuss durch den Grenzposten und auch sicher zurück von ihrem Einsatz nach Mali.
Der Eurozentrismus des Vortragenden stößt mir ungut auf, aber viel mehr bohrt in mir die Frage, was es bedeute, dass sich »österreichische Soldaten vom Süden her der Grenze zu Mali nähern«. Einer der Anwesenden in der Kaserne Wiener Neustadt war der letzte Österreicher, der sich an der Mission in Mali beteiligt hat. Im Februar war auch für ihn Schluss: »Die letzten Monate saß ich nur mehr im Quartier herum. Wir durften nicht mehr den Stützpunkt verlassen. Nachdem ich am Morgen meine Aufgaben erledigt hatte, war den ganzen Tag nichts mehr zu tun.« Wie er die Zeit verbracht hat? »Man schaut halt viel Netflix.«
»Ausbildnermission« wird so etwas wie in Mali genannt. Auch in Afghanistan sollen österreichische Soldaten zur »Ausbildung« gewesen sein. Dass sie mehr als das taten, bemerke ich bei der Schießvorführung. Der Übungsleiter, »ein wilder Hund«, wie einer seiner Kollegen sagt: »Der hat in Afghanistan ein paar auf dem Gewissen.« Diese werden ihm wohl kaum bei der Ausbildung zum Opfer gefallen sein. Ein Kollege, der in der Chefredaktion einer der größten österreichischen Tageszeitungen arbeitet, erzählt mir, dass die Soldaten derzeit versuchten, vor Gericht durchzusetzen, dass sie Waffen auch in der Freizeit tragen dürfen. »Die sind ein wenig paranoid, glauben, die Taliban suchen sie in Österreich, weil sie in Afghanistan waren«, erklärt er mir. Daher dürfen wir auch keine Aufnahmen von den anwesenden Soldaten machen. Ihre Namen kennen wir nicht. Sie reden sich mit Spitznamen an. Dienstgrade tragen sie nicht: »Das brauchen wir nicht. Wir wissen hier eh, wer wer ist und wer das Sagen hat.« Das Sagen hat »Leopold III.«
Gebildet und sehr sympathisch mit viel Humor sitzt er in der Nacht am Lagerfeuer und zeigt uns, wie am besten mit Zunder aus Kanada Lagerfeuer gemacht werden kann. Wie ich auf die Schnelle im Kriegsgebiet zu kanadischer Birkenrinde komme, kann er mir aber nicht erklären: »Wir nehmen immer ein paar Säcke mit, wenn wir dort die Winterausbildung machen«, meint Leopold III. Wieso er diesen Namen trägt, ist unklar, aber er war bereits mehrmals in Afrika im Einsatz. Auch er näherte sich schon »von Süden her der Grenze zu Mali«. Niger, Burkina Faso, Côte d’Ivoire? In welchem Land die österreichischen Soldaten im Einsatz waren, finde ich nicht heraus. Einer hatte mal einen Spezialeinsatz in Burkina Faso. Damals dürfte dies unter US-amerikanischem Kommando geschehen sein.
Jordanische Grenze, Somalia – die anderen Länder, von denen hier erzählt wird, sind weit gefächert. UN-Einsätze sind es keine. Unter welchem Mandat die hier rund ein Dutzend anwesenden Soldaten operieren, sagen sie nicht – vielleicht wissen sie es selbst auch gar nicht.
Theorie und Praxis
Sie alle sind Teil der in der Kaserne Wiener Neustadt stationierten Eliteeinheit des österreichischen Bundesheers: Jagdkommando. Rund 300 Soldaten soll es umfassen. Ihre Aufgaben laut Eigendefinition: Spezialaufklärung, Kommandounternehmen, militärische Unterstützung, Erstreaktionskraft, kampfkräftiges Suchen und Retten, Einsatz von konsularischen Unterstützungsteams, militärische Evakuierungsoperationen. In der Öffentlichkeit soll niemand wissen, wer Mitglied ist.
Der Vormittag des ersten Tages beginnt mit der Anreise aus der Rossauer Kaserne und einem Vortrag des ORF-Korrespondenten Christan Wehrschütz. Danach geht es direkt in die thematischen Workshops: Erste Hilfe auf dem Kampffeld, Orientierung im Gelände und auf Karten, Phasen der Geiselhaft, Verhalten bei Checkpoints. Alles verbunden mit praktischen Elementen. Beamte des Außenministeriums berichten über die Hilfe, die Konsulate und Botschaften in Krisenregionen uns Journalisten bieten können. Christoph Sternat, zu dem Zeitpunkt noch Büroleiter im Auftrag der Agentur für Entwicklungszusammenarbeit in Ramallah im Westjordanland, berichtet über die Evakuierung österreichischer Staatsbürger aus dem Gazastreifen im Herbst 2023.
Nach der Mittagspause, die wie alle anderen Unterbrechungen viel zu kurz ausfällt, geht es mit dem Mannschaftstransportwagen zum Garnisonsübungsplatz Blumau. In den Ruinen einer Munitionsfabrik aus dem Ersten Weltkrieg heißt es Quartier aufschlagen. Laub wird weggeschafft, die offenen Fenster werden mit Planen verschlossen und die Rattenlöcher mit Ziegeln dichtgemacht. Zunder machen, Alternativen zu Feuerzeugen und das richtige Brennmaterial, das auch bei extremer Kälte im Norden Wärme spendet, werden von Leopold III. erklärt. Bevor das Wasser am Lagerfeuer keimfrei gemacht wird (mindestens fünf Minuten kochen), um darin das Fertigessen aus dem verschweißten Beutel – mit dem Kollegen der Kronen-Zeitung teile ich mir »Huhn in Currysauce« und »Jägertopf« –, geht es noch zur nächsten Einheit: »Klausi« lehrt uns, mit Haarspangen Handschellen zu öffnen.
Irgendwann um ein Uhr morgens schaffen wir es dann doch noch zu unseren Zahnbürsten und fallen in die Feldbetten. Viel Schlaf gibt es nicht: Schnarchen, eisige Kälte im Schlafsack und das penetrante, nervtötende Peitschen der Planen über den Fensteröffnungen. Doch auch Übungsleiter Leopold III. verhindert etwas mehr Schlaf: Um sechs Uhr morgens steht er mit Trompete neben uns. Rasch anziehen, Zähneputzen und Nachtlager abbauen, denn um sieben Uhr geht es mit der nächsten Einheit von »Klausi« weiter: Kabelbinder in Gefangenschaft entfernen. Davor zeigt uns »Dose« noch die unterschiedlichen Arten des Spannens von Planen für das Nachtquartier im Freien.
Von Blumau aus geht es dann weiter zum Sprengplatz: Minen, Streumunition und Blindgänger werden vorgeführt, auf die Journalisten in Kriegsgebieten treffen könnten, und aus dem Bunker beobachten wir die Detonation unterschiedlicher Sprengsätze. Am Schießplatz demonstriert »Junior«, welche Materialen und Gegenstände Schutz vor Handfeuerwaffen, Maschinen- und Sturmgewehren bieten. Fazit: Auto schützt dich nicht, das »funktioniert nur in Hollywoodfilmen«, bekommen wir zu hören. »Das war das Ziel dieser Vorführung«, zeigt sich Junior zufrieden mit unserer erworbenen Erfahrung.
Bundesheer links unterwandert
Spätabends sollen wir dann noch das »Verhalten bei Checkpoints« in der Kaserne Götzendorf trainieren. Doch der Checkpoint wird angegriffen. Zwei Sprengfallen werden gezündet, der Mannschaftstransporter beschossen und wir gefesselt. Schließlich sind wir als »feindliche Journalisten« getarnte Spione – so behauptet es die »Alliance for Social Society Change« (ASSC).
Auch beim Kriegsspielen für Journalisten zeigt der Staat klar: Der Feind steht links! Die linksautonome Gruppe ASSC, zutiefst anarchistisch beeinflusst, hätte das Bundesheer unterwandert, erfahren wir. Ihre Forderungen, die wir die Nacht durch des öfteren wiederholen müssen: Anerkennung als Partei, freier Zugang zur Berichterstattung über ASSC im ORF und eine festgelegte Anzahl an Goldbarren je gefangenem Journalisten. Wieso diese fiktive anarchistische Gruppe aber unbedingt als Partei anerkannt werden möchte, um bei bürgerlichen Wahlen als Anarchisten auf dem Stimmzettel stehen zu dürfen, bleibt wie vieles andere während der drei Tage unbeantwortet.
Nach unserer Geiselnahme folgt eine unbequeme Lkw-Fahrt, stundenlanges Stehen, Sitzen, Knien und Hocken in einem dunklen Raum, das Befolgen teils verwirrender Befehle, eine fehlgeschlagene Befreiung durch ein »Kommando der Cobra« in der Mitte der Nacht und schließlich nach längerem Schusswechsel die endgültige Evakuierung durch das Jagdkommando am Morgen des dritten Tags. Und es wurde sich sichtlich Mühe gegeben: Im Kasernenkeller liegt eine lebensgroße Puppe als erschossene Leiche eines Geiselnehmers in frischer Blutlache.
Auch wenn es nur ein Training war – für uns Journalisten, aber auch für das Jagdkommando, das den Landeplatz sicherte und an den umliegenden Häusern Scharfschützen plaziert hatte: Wir waren alle froh, erschöpft endlich wieder in der Kaserne Wiener Neustadt zurück zu sein.
Drei äußerst lehrreiche Tage mit einer Flut an Informationen waren zu Ende. Drei Tage, die uns auf den Einsatz in Krisenregionen vorbereiten sollten und einige Kollegen vom Plan, Kriegsreporter zu werden, wohl wieder abgebracht haben. Aber zumindest das Jagdkommando hatte seine Freude, mit einer Gruppe Journalisten ein wenig Krieg spielen zu dürfen. Wenn es nach nahezu allen österreichischen Parlamentsparteien geht, soll es nicht beim Spielen bleiben.
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