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Aus: Ausgabe vom 31.08.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
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Der Chinese des Schmerzes

Eat, Drink, Noise, Vinyl: Von Beijing nach Shanghai und zurück
Von Maik Rudolph
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Like a Roadrunner: Die Band 饮马池 (Yinmachi, in etwa: Stall zum Tränken des Pferds) übt Einfluss aus

Blut, überall Blut. Auf den Knöcheln, selbst die Schuhe sind verschmiert. Proppenvolle Mücken explodieren schon bei sanfter Berührung; 39 Grad Celsius bringen Shanghai zum Kochen. Doch fangen wir am Anfang an: Urlaubssaison. An der Gepäckabgabe des Flughafens Berlin–Brandenburg wurde der Autor darauf hingewiesen, dass er kein Visum habe. »Brauche ich doch gar nicht; 15 Tage sind doch seit kurzem visafrei für deutsche Staatsbürger, oder verstehe ich da was falsch?« Was soll schon schiefgehen? Minutenlanges Tippen, gefolgt von: »Ach, Sie sind Tourist!« Gedemütigt bereits vor dem Abflug. Nächstes Mal wird wieder nur mit Handgepäck gereist.

Seit dem 1. Dezember vergangenen Jahres dürfen Staatsbürger ausgewählter westlicher Staaten, ursprünglich auf ein Jahr terminiert, 15 Tage ohne Visum die Volksrepublik besuchen. Das sind Kosteneinsparungen von über 100 Euro für Staatsbürger von Schengen-Staaten; eher noch mehr, wenn man sein Visum postalisch oder gar im Expressverfahren zugestellt haben möchte. Das Ziel: Tourismus, mithin Investitionen ankurbeln. Erfolg: ein sichtlicher. Selten hat der Autor Beijing so voller Touristen erlebt. Chinesische Staatsmedien feiern den Tourismusboom, und der Staat hat die visafreie Option nun verlängert, bis Ende 2025. Gilt nun auch für Australien und Neuseeland – von einem neuen kalten Krieg ist wenig zu spüren. Allerdings ist für chinesische Staatsbürger der Erwerb eines Schengen-Visums seit vergangenem Jahr erheblich erschwert worden.

Digital ist besser

Am Beijing Capital International Airport gelandet, leider nicht am Daxing-Flughafen, für den es nur ein Drittel der Bauzeit des BER benötigte. Auch wenn die neuen Visafreioptionen nicht den sogenannten globalen Süden ansprechen, hat sich doch einiges getan: Für Staaten der »Belt and Road Initiative« gibt es eine »Fastlane« bei »Immigrations«.

Fast genau vier Jahre ist es her, dass der Autor seinen Hauptwohnsitz nordöstlich der Verbotenen Stadt angemeldet hatte. Günstiges mobiles Internet in großen Datenmengen und Bezahlung per Telefon waren damals bereits Normalität. In der Bundesrepublik hat es eine Pandemiewelle gebraucht, um flächendeckend auf Visas Tap-to-Pay-Verfahren umzustellen. Darauf sollte man hier aber nicht hoffen. Wer nach der Landung auf der Suche nach Bargeld ist, muss einen der wenigen ATMs am Flughafen aufsuchen. Kreditkarten werden kaum angenommen. Sogar mit Bargeld wird man verlacht – Omas mit rollenden Ständen, die Teigtaschen für Kleinstbeträge verkaufen, haben den Autor schon abgewiesen –, geht dank der Touristenwelle aber wieder etwas besser im Moment. Digitale Zahlungen laufen über den entsprechenden Dienst der Messenger-App Wechat oder über Alipay ab. Zahlungen mit ersterer App dürften für Touristen kaum eine Option sein, weil sie an ein chinesisches Bankkonto gekoppelt sein müssen. Alipay akzeptiert auch die Koppelung mit internationalen Kreditkarten. Das Problem könnte sich mit dem extra für Touristen Ende Juli eingeführten »Beijing Pass« aber erledigt haben.

Autounfall à la carte

Am ersten Abend wird geschlemmt. Im Yunnan-Restaurant auf der ruhigen nördlichen Seite der grenzenlos überlaufenen Touristraße Nanluoguxiang. Die Küche der Provinz Yunnan gehört mit zu den besten des Landes, bietet sogar Gerichte mit Käse, der in den anderen chinesischen Nationalküchen gar nicht existiert. Minze, Garnelen, viele aufregende Pilze, die außerhalb der Region nicht zu bekommen sind, damit auch den unvergleichlichen Geschmack in der westlichen Hemisphäre schwer nachahmbar machen. Dazu kann man sich über die Namen amüsieren. In der Provinz Yunnan tendiert man dazu, Gerichte mit sehr blumigen, geschichtsträchtigen Bezeichnungen zu versehen, die sich ohne kulturellen Kontext kaum übersetzen lassen, etwa wie »Autounfall à la carte«.

Das Bier im Anschluss gibt es in einer neuen Bar, doch von einem alteingesessenen Betreiber. Die Fluktuation von Bars oder Live Houses ist hoch, doch sie finden immer einen Weg zurückzukehren. In diesem Fall als The Factory: Craft-Beer- plus Cocktailbar plus Comicladen. Am Tresen trifft ein Musikproduzent aus New Orleans, der schon mehr als eine Dekade lang in China unterwegs ist und unter seinem Alias Thruoutin auch mit Ambient-Sets auftritt, auf den Ghanaischen Barkeeper, einem Reggae-Sänger, dessen Album er durch Zufall vor einigen Jahren produziert hatte, ohne ihn jemals persönlich kennengelernt zu haben. An einem anderen Abend erzählt ein chinesischer Tresengast (Anwalt und Saxophonist) davon, sich einen Zweithund zulegen zu wollen, einen Jagdhund: einen Dackel, da sein Shiba Inu so ruhig und brav wie eine Katze sei. Wie auch in vielen der ubiquitären Craft-Beer-Bar-Ketten kann man dort Sitztoiletten genießen, sogar mit Türen. Ansonsten ist China ein Land des Hockens.

Etwas Kultur gefällig?

Die alte Nachbarschaft abgrasend, will der Autor einfach mal über den Tiananmen schlendern. Zwar verlangen die Museen auf und um ihn herum schon seit längerer Zeit nach einem festen Termin, doch der Platz selbst war immer nach lediglich einer Sicherheitskontrolle zu begehen. Wirklich nützlich als öffentlicher Platz oder Verbindung von A nach B war er früher auch schon nicht, spätestens nicht seit der Abrieglung nach der Terrorattacke von 2013, als Anhänger der Islamischen Bewegung Ostturkestan mit einem SUV in die Menschenmassen gefahren waren. Der Regierungssitz Zhongnanhai liegt auch nordwestlich des Tiananmen. Inzwischen hat sich der Radius der Bannmeile fast verdoppelt, zwei Kontrollen, lange Schlangen, und allein für das Betreten des Platzes braucht es einen Termin. Hoffentlich normalisieren sich diese Zustände, wenn die Urlaubssaison vorbei ist. Diese Hoffnung scheint auch das Amt für Kulturerbe zu hegen, das sich für eine Flexibilisierung der Terminpolitik von Museen ausgesprochen hat. Der Autor kann damit leben: Been there, done that. Auf geht’s nach Shanghai.

Kulturprogramm

Mit der U-Bahn auf dem Weg zum Südbahnhof bekommt man das Gefühl, in Tokio oder Leipzig zu sein. Viele junge Chinesen tragen Cosplay, erinnern an Manga-Figuren bzw. dem chinesischen Pendant Manhua. Westliche Kultur bedeutet für junge Menschen seit den 80er Jahren weniger Mainstream-Trash aus den USA oder Europa, auch wenn die Serie »Friends« und Anke Engelkes »Ladykracher« sich sehr großer Beliebtheit erfreuen, sondern vielmehr Japan und Südkorea.

Ticket für den Gao Tie (den Schnellzug, CRH) online gekauft. Früher musste man als Ausländer noch seine Ticketreservierung am Schalter in eine physische Karte umwandeln. Heute sieht das anders aus. Völlig verdutzt noch mal nachgefragt. Das Servicepersonal versichert aber, der Autor könne einfach seinen Pass scannen und dann runter zum Gleis. Mit 300 bis fast 400 Kilometern pro Stunde rast der Zug in viereinhalb Stunden über eine Strecke, die ungefähr der von Berlin nach Rom entspricht. Darauf erst mal einen Becher kochendes Wasser aus dem Heißwasserspender, den es in jedem Zug gibt. Heißes Wasser: die Wunderwaffe der traditionellen chinesischen Medizin oder kodifizierter Aberglaube, der aus der materiellen Realität mangelhafter Wasserqualität entspringt.

Moskau oder Sankt Petersburg, Beijing oder Shanghai? Im Vergleich verhält es sich ähnlich. Die Stadt am Meer ist jeweils westlicher geprägt. Die Bauten, gerade entlang des Bunds, der westlichen Uferpromenade des Flusses Huangpu, zeigen das koloniale Erbe. Pudong, auf der anderen Uferseite, ist das gigantische vollverglaste Finanzzentrum des Landes. In der alten Französischen Konzession fühlt man sich mit den schmalen Gassen und grünen Alleen nach Paris versetzt. 1921 wurde dort die KPCh gegründet. Das Shanghaier Getto und die alte Synagoge stehen für das jüdische Erbe der Stadt, in der 20.000 Juden Zuflucht vor dem Faschismus gefunden hatten, obwohl die Stadt selbst faktisch unter japanischer Kontrolle stand.

Einige Ecken vermitteln das Gefühl, man schlendert durch Lower Manhattan, nur menschenleer. Die fast 25 Millionen Einwohner flüchten sich natürlich vor den nahezu 40 Grad Celsius entweder ins Eigenheim, in die unzähligen Luxusmalls der Stadt mit ihren Klimaanlagen oder zu Aldi. Wer doch draußen wandelt, der trägt nicht übermäßig geschmackvolle UV-Schutz-Trainingsjacken, oft von Anta, dem Ausstatter des chinesischen Olympiateams.

Kulturprogramm: Ja, doch

»Guanxi ist alles« – gute Kontakte, ein gutes soziales Netzwerk. Der Mann hinter Live China Music (LCM), gebürtig in Connecticut, der als Konzertveranstalter, aber auch Chronist der chinesischen Indie-Szene zumeist auf Wechat-Kanälen, aber auch Onlineplattformen wie Radii schreibt, besorgt dem Autor einen Gästelistenplatz.

Das VAS Livehouse befindet sich an der Außenfront einer Mall; keine Seltenheit, seitdem viele kleine Konzertorte schon vor und während der Pandemie dichtmachen mussten. Die Nachfrage nach Rockmusik hat stark zugenommen dank der Streaming­show »The Big Band« auf Iqiyi, der chinesischen Antwort auf Netflix. Kleinere Acts bekommen mehr Anhänger, größere Konzerthäuser werden gebraucht, die Preise steigen, der Papierkram nimmt ebenso zu (um jeden einzelnen Song mit der Zensurbehörde abzuklären). Viele kleinere Künstler gehen dabei unter, es mangelt an adäquaten Auftrittsorten.

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Festivalplakat: Es gibt Lärm, kostenlos für dich und mich

污甩 (Wushuai, Dirt Left) liefern Krautrock mit starkem Wave. Einflüsse der postpunkigen Surfrocker von Lonely Leary sind deutlich zu erkennen, die eben durch genannte Show einen großen Einfluss auf neue Künstlergenerationen haben und der jungen Generation, den Linglinghou (also nach 2000 Geborene, Gen-Z), aus dem Herzen zu sprechen scheinen. Die Headliner 第三脚趾 (Disan Jiaozhi, The Third Toe) chargieren zwischen Industrial à la Fad Gadget und den eingängigeren Tanzeinlagen von New Order.

Der Folgetag sollte noch viel mehr bieten. Nach köstlichem Lotusburger und Reganmian, dem Nudelsnack, für den Wuhan ebenso bekannt ist wie für die Pest, geht es zu einem LCM-Event ins einstige Zweit- und heute einzige Etablissement von Yuyintang, damals in einem Park gelegen, heute im Erdgeschoss einer Mall, sich nun aber Yuyintang Park nennend. 饮马池 (Yinmachi, in etwa: Stall zum Tränken des Pferds) eröffnen den Abend mit wenig Überraschendem: Postpunk und Indierock im Stil von Carsick Cars – auch überregional bekannt als Vorband der 2007er Europatour von Sonic Youth – und Yang Haisongs Projekt P. K. 14. Beide haben Anfang der 2000er einen Boom initiiert. Bis heute merkt man ihren Einfluss deutlich bei vielen jungen Bands, sei es beim Gesang oder an der Gitarre, die perfekt den Sprung von einem an Jonathan Richmans »Roadrunner« erinnernden Forward Drive zu melancholischem Geleiere meistert. Doch schon ab dem zweiten Titel füttert die Band mit dem chinesischen Doppelgänger von Romano am Gesang den Sound mit einer eigenen hypnotischen Note. Darauf erst mal angestoßen mit einem reingeschmuggelten Jingjiu (brennender Kräuterlikör).

Plötzlich Mathrock-Gefrickel, ganz instrumental, gefolgt von einem funky Outburst, der auch von den frühen Red Hot Chili Peppers oder den Minutemen stammen könnte. Man merkt, dass sie als Ska-Band angefangen haben, es zum Glück aber nicht mehr sind. Die Pedal-Arbeit des Leadgitarristen kommt einem J. ­Mascis gleich. Der größte Chinese aller Zeiten kühlt sich währenddessen mit einem Miniventilator direkt vor der Bühne und nickt jeden Song ab. Eine junge Frau versucht das Konzert über, ihr Apple-Passwort wiederherzustellen, vergebens. Dann setzt die Band ihre Genrereise fort, etwas Black Francis und Kim Deal gemischt mit dem Twang von »Misirlou« – Shoegaze trifft Western-Surf und Tsifteteli. Die routinierten Beijinger Naja Naja folgten dieser noch weniger bekannten Band und wurden trotz großartiger Cold-Wave-Darbietung, die nahe an einen Rave grenzte, zwischen Joy Division und Hawaiihemd, vom Opener in den Schatten gestellt.

Zurück in der Hauptstadt

Inlandsflüge sind eine dumme Idee, die Schnellzüge sind nicht ohne Grund so populär. Versprochen wurde für denselben Preis (circa 80 Euro) die halbe Zeit. Da chinesischer Luftraum, gerade um Beijing, oft fürs Militär reserviert ist, sind Flüge notorisch verspätet. So auch in diesem Fall, kaum Zeitersparnis. Aber was soll’s, auf zum zweitliebsten Restaurant des Autors: Sulitan auf der Guijie, Geisterstraße, direkt um die Ecke von der russischen Botschaft und deren Kulturzentrum mit Juri-Gagarin-Büste. Küche: uigurisch, Fleischspieße und Dapanji. Der Betreiber kippt sich mit chinesischem Schnaps zu. Früher trug seine als Bedienung arbeitende Tochter noch Kopftuch. Empfangen werden wir als Russen.

Danach geht es aufs Dorf Xiaodian, eingemeindet und Teil des Beijinger Bezirks Chaoyang. Der 17jährige Sohn des Besitzers einer Sporthalle für Kungfu, Pingpong und natürlich Basketball – Lieblingssportart von Mao Zedong, die in Popularität Xi Jinpings Liebe zum Fußball nachgeben musste – stellte zum zweiten Mal ein kostenloses, achttägiges Noise-Festival vom 2. bis 9. August auf die Beine: »你和我« (Ni he wo, Du und ich). Diesmal international besetzt. An Geld scheint es wenig zu mangeln, betrachtet man die Bentley- und Harley-Davidson-Sammlung im Hof der Sporthalle.

Lärm

Die verzerrte Kinderstimme der Balaklava-Trägerin 人形A (Renxing A, Humanoid A) eröffnet den zweiten Abend des Festivals. Cartoonsounds und Onomatopoesie ergänzen Wurlitzer-Klänge und das immer lauter werdende Geräusch einer Bohrmaschine.

In den Pausen mischt sich das Konzertpublikum unter das sowieso schon wuselnde und aufgeregte Leben dieser kleinen Siedlung. Viele Chinesen, aber auch Noise-Connaisseurs aus anderen Teilen Asiens sowie Brasiliens zeigen sich begeistert vom ebenso hasskappenverkleideten Torturing Nurse aus Shanghai. Lacan würde es die stumpfe Lust, Jouissance, Genuss im Schmerz nennen, wenn Cao Junjun – laut einem Interview im New Noise Magazine (Februar 2022) u. a. künstlerisch von den Werken Herzogs und Pasolinis inspiriert– sein Noise Board aus Instrumenten und Verzerrern der Marke Eigenbau mit voller physischer Gewalt malträtiert, als wollte dieser gemarterte Nonnerich nicht nur die Ohren des Publikums, sondern auch sich selbst foltern. Ein orgiastischer Reigen bei den stumpfen Schlägen mit dem Mikrophon auf seinen Kopf: G. G. Allin des Noise. Abruptes Ende, Maske weg, »Elvis has left the Building«, während der Lärm noch nachhallt. Da er nicht mit eigenem Board aufgetaucht ist, hat sich die Zerstörungsorgie noch in Bahnen gehalten.

Auf den Tischen mit dem Merch stapeln sich selbstgebrannte CDs, aber auch Kassetten. Ein Medium, das in alternativen Musikkreisen Chinas, völlig unabhängig vom Genre, bis heute große Bedeutung hat – und sei es nur als nette Geste, da jede(r) Musik praktisch nur noch online hört.

Der durchaus talentierte Organisator lässt es sich natürlich auch nicht nehmen, selbst aufzutreten, mehrfach. In gewissem Maße ein Vanity Project, von dem aber alle etwas haben. Aus dem Einerlei von Solokünstlern bricht Haruhiko aus Osaka heraus. Volle Bandbesetzung, Noiserock mit etwas Funk. Der japanische Iggy Pop – mit Irokesenfrisur und nichts als einer Boxhose bekleidet – ist das geborene Frontschwein: der Stooge als Thai-Boxer. In den 80ern wären sie bei SST gelandet. Dann wird es ruhiger, Genre durcheinandergewürfelt, ein an Miles Davis’ »Bitches Brew« erinnerndes Trompetensolo geht über in den kindlich verspielten Sound von Daniel Johnston. Das Publikum nickt nicht mehr, es wird gemosht, die Ninja-Moves werden rausgeholt, als würde Earth Crisis zum Feuersturm aufrufen.

Mehr Lärm

An den Folgetagen gibt es viel Gutes, aber auch viel vom gleichen Schlag. Astro Joke + Liz präparieren eine Induktionsplatte und Töpfe mit Tonabnehmern und verzerren den Klang von insgesamt elf kochenden Eiern, einige weich, andere hart. Mit »Egg Raid von Mojo« (Beastie Boys) und den »Eiern von Satan« (Tool) wurde in der Popmusik alles mit Eiern gemacht, was man damit machen muss. An Kreativität stehen sie aber den Noise-Pionieren Throbbing Gristle oder den Vätern des DDR-Noise und -Techno, AG Geige, in nichts nach.

Zum Glück liegt das Dorf in Flughafennähe. So kann sich der Autor noch zwei Shows geben, bevor er seinen Heimflug antreten muss. Nach »Holiday on Ice« und »Metall auf Metall« (Kraftwerk): Ding Chenchen von Noise 666 positioniert seine Tonabnehmer an einem Metallblech und einem Eimer voller Eis. Ein Performancekünstler zerschlägt die Eisbrocken, sammelt sie in seinem T-Shirt und wirft sie aufs Blech. Dabei zeichnet er mit dem Eis auf dem Blech in der Manier vieler chinesischer Rentner, die mit Wasser Kaligraphien auf die Böden öffentlicher Plätze zaubern – eine ruhige Abwechslung zu den Omas, die recht lautstark und in Gruppen Squaredance in Parks betreiben, worauf an dieser Stelle leider nicht näher eingegangen werden kann. Selbst chinesische Soziologen sind sich bisher uneins darüber, wie sich dieses Phänomen erklären lässt.

Fulminanter Abschluss: Victoria Shen aus San Francisco. Ein Miniplattenspieler rotiert Vinyl, Shen kratzt die Rillen mit den Tonabnehmern auf allen zehn Fingernägeln nach, während sie zeitweise die Rotation mit ihrem Mund stoppt. Wie Torturing Nurses steht auch hier Selbstzerstörung an erster Stelle. Auch die des Publikums. Irgendwann spielt sie Mundhöhle und Zähne, dazu kommt eine Minitrompete. Das metallische Lochband zwischen ihren Zähnen spielen ihre Nägel wie Hendrix damals die Gitarre mit seinem Penis. Mit einem riesigen Metallband köpft sie fast das Publikum, das sie abschließend mit Peitschenhieben attackiert – der verzerrte Lärm hat leider den Aufruf, sich zu ducken, übertönt. Nach dieser Performancekunst im Geiste der Survival Research Laboratories erheischt sie tosenden Beifall und bekommt ein Blumenbouquet überreicht. – »Das beste Festival, auf dem ich je gespielt habe«, war sich Shen nach ihrem Konzert sicher.

Maik Rudolph arbeitet im Korrektorat der ­jungen Welt und leitet das Ressort Leserpost.

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