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Aus: Ausgabe vom 02.09.2024, Seite 5 / Inland
Wunschdenken und Wirtschaft

Supertanker ohne Kapitän

Deutschlands Wirtschaft und die seltsame Wahrnehmung einer Krise durch Staat, Medien und Kapitalfunktionäre
Von Klaus Fischer
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Vor verschlossenem Tor: Die schlechten Nachrichten für die deutsche Wirtschaft reißen bislang nicht ab

Am Freitag stieg der Dax auf ein neues Allzeithoch und notierte bei 18.957 Punkten. Kurz zuvor hatte das Statistische Bundesamt verkündet, dass die Inflation im August erstmals wieder die Zwei-Prozent-Marke unterschritten habe. Seit Jahresbeginn erhöhte sich der Wert der im Deutschen Aktienindex zusammengefassten 40 wichtigsten börsennotierten Konzerne um 19 Prozent – und die Teuerung war so niedrig wie seit langem nicht. Doch gute Nachrichten von der Wirtschaftsfront sind selten geworden. Schlechte bleiben an der Tagesordnung.

Am selben Tag brach die lang anhaltende Krise beim größten BRD-Stahlproduzenten offen aus. Aufsichtsrat und Vorstand von Thyssen-Krupp Steel warfen das Handtuch und stahlen sich aus der Verantwortung beim vermeintlichen Rettungsversuch – der Übernahme von 50 Prozent des Unternehmens durch den umtriebigen tschechischen Milliardär Daniel Křetínský. Es drohen Entlassungen oder gar Betriebsschließungen.

Auch der Maschinenbau – eine der wichtigsten Sparten der Indus­trie – schwächelt weiter. Im Juli lag der Wert der Bestellungen fünf Prozent unter dem Vorjahreswert, teilte der Branchenverband VDMA am selben Tage mit. Hinzu kamen schlechte Zahlen vom »Arbeitsmarkt«. Die Zahl der Erwerbslosen habe im Monatsvergleich um 2.000 zugenommen. 925.000 Menschen erhielten im August Arbeitslosengeld – 109.000 mehr als vor einem Jahr.

Die Krise der Wirtschaft (und damit der Gesellschaft) ist offensichtlich und eine Trendwende zum Besseren nicht in Sicht. Zwar ist die BRD-Wirtschaft so etwas wie ein Superschlachtschiff, das einige Torpedotreffer nicht gleich versenken können. Doch die Schäden durch falsches Management, verantwortungsloses Regierungshandeln und ein Versagen der Medien als gesellschaftliches Korrektiv sind strukturell und nur schwer einzudämmen.

Das registrieren auch die Vertreter der etablierten Privat- und staatsnahen Medien. Doch statt Ursache und Wirkung klar zu benennen, werden eher Sündenböcke gesucht und die üblichen Verdächtigen beschuldigt: Die allgemeine Weltlage, die nachlassende Kauflust, eine zu hohe Inflation und vor allem der »russische Angriffskrieg« auf die Ukraine, bei dem es eine Frage der höheren Werte war, dass die BRD mitmacht, sowie die ruchlosen Chinesen, die die Waren aus ihrer billigen Überproduktion in Deutschland und der EU verkaufen und dabei die guten heimischen Kapitalisten ruinieren.

Ebenfalls am Freitag versuchte sich das Handelsblatt an einer Generalabrechnung. Titel: »Vertrauensverlust«. Unterzeile: »Warum der Staat in Zeiten von Wirtschaftsflaute, Terrorangst und Migrationskrise versagt, wie das Extremisten stärkt – und was jetzt passieren muss.« Das vermutlich wichtigste Wirtschaftsmedium Deutschlands setzte zum großen Wurf an. Leider landete der Speer im nahen Dickicht der Folgenlosigkeit, auch wenn viele Krisenerscheinungen deutlich beschrieben wurden.

Die Autoren beackern zahlreiche Schwerpunktprobleme und liefern zugleich die entsprechende Deutung. Thematisiert werden der »schleichende Kontrollverlust« des Staates. Aber es bleibt appellativ, besonders was die Wirtschaft, deren Flaute bzw. deren Verharren in Stagnation bzw. Rezession auf unabsehbare Zeit betrifft, gibt es auch nur Belehrungen aus dem Off. Es erinnert immer wieder an den alten Witz, demnach drei Leute einen Unfall hatten und das Auto am Baum landete. Auf die Frage der Polizei, wer am Lenkrad gewesen sei, sagen alle, sie hätten hinten gesessen. Kapitalfunktionäre und Eigentümer, Staatsvertreter und Medienbosse machen das ebenso.

Vor allem wird weiter von oben herab auf die »Menschen« im Lande geblickt, die das Desaster ausbaden müssen. Bei denen herrsche eine »diffuse Furcht vor Krieg«. Zugleich seien »die fetten Jahre« vorbei. Wenn Kanzler Olaf Scholz 2023 angesichts der »grünen Transformation« Wachstumszahlen wie in den Wirtschaftswunderjahren verspreche und bis jetzt nicht davon abgerückt sei, mache das nur deutlich, wie groß die Diskrepanz der Wahrnehmung zwischen Ampelkoalition und Bevölkerung ist. »Das klingt angesichts der aktuellen Konjunkturzahlen fast wie Hohn.«

Fast? Es sind genau solche Formulierungen, die deutlich machen, dass die Mainstreamjournalisten zu jenen gehören, die im imaginären Unfallauto hinten gesessen haben wollen. Eine »Transformation«, die in vielen Teilen des Projekts eher auf Wunschdenken und Glaubensbekenntnissen beruht, war stets genau das, was die Großmedien seit Jahren eingefordert hatten. Zweifel waren nicht erlaubt.

Inzwischen dämmert vielen, dass Naturgesetze unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existieren und wirken. Auch in der Medienbranche tendiert man nun dazu, den Kanzler zum Sündenbock zu machen. Das ist erlaubt, aber verzerrt das Bild zugunsten der »Mitfahrer«. Da passt auch das Fazit der Handelsblatt-Philippika gut ins Bild: »Vermutlich gilt für die nächsten Tage: Es muss erst schlimmer werden, bevor es besser wird.«

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  • Leserbrief von Frank Lukaszewski aus Oberhausen (2. September 2024 um 16:46 Uhr)
    Leider findet man noch immer Zeitgenossinnen und -genossen, die meinen, der Rückgang der Inflationsrate mache die Sache einfacher. Das Sinken derselben bedeutet schlicht, dass das horrende Wachstum der Kosten beispielsweise für Lebensmittel der letzten Jahre weitergeht. Vom Stand der aktuellen Preise mit geringerer Intensität. Wenn das schon die FAZ, die Zeitung der sogenannten Elite, am 30.08.24 (S. 17) meint mitteilen zu müssen …