»Gaza« jetzt in Dschenin
Von Helga BaumgartenSeit dem 7. Oktober sammelt Al-Haq Informationen zur Verletzung des Völkerrechtes im Gazakrieg. Sie werden weitergereicht an internationale Menschenrechtsorganisationen, den Internationalen Gerichtshof (IGH) und den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Schawan Dschabarin, Direktor von Al-Haq seit 2006, ist rund um die Uhr beschäftigt in diesen mörderischen Zeiten. Als ehemaliger Kollegin von der Universität Birzeit gewährt er mir etwas von seiner kostbaren Zeit. Wir treffen uns in den Büros von Al-Haq im Zentrum des alten Ramallah.
Seit dem frühen Morgen des 28. August alarmiert Al-Haq die Welt wegen des verheerenden und blutigen Angriffs der israelischen Armee auf den Norden der Westbank: auf Dschenin, Tulkarm, Tubas und Nablus sowie Flüchtlingslager im Süden der Westbank. Bis Sonnabend wurden geschätzte 26 Menschen getötet durch Drohnenangriffe und Heckenschützen der Armee. Seit Sonnabend spricht die Armee auch nicht mehr von einer Operation, sondern von einem Angriff, der sich über längere Zeit hinziehen könnte.
Das Leben im Norden der Westbank, vor allem in Dschenin, ist zum Stillstand gekommen. Die Armee hat alles abgeriegelt, selbst Krankenhäuser. Krankenwagen werden nicht durchgelassen, Familienväter können keine Lebensmittel besorgen, die Infrastruktur ist weitgehend zerstört. Es gab die ersten Evakuierungsbefehle an die Bewohner der Flüchtlingslager Nur Schams (bei Tulkarm) und Dschenin (direkt außerhalb von Dschenin): Der Gazakrieg ist in der Westbank angekommen.
Am 6. August wandten sich Al-Haq und zwei weitere palästinensische Menschenrechtsorganisationen mit einer Eingabe an den IStGH. Der Gerichtshof, so das Argument, müsse israelische Staatsangehörige wegen Verbrechen, die auf dem gesamten 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebiet verübt wurden, anklagen. Die Osloer Verträge seien kein Hinderungsgrund zur vollen Ausübung der Jurisdiktion des Gerichtes.
Al-Haq wies mit aller Schärfe eine britische Intervention zurück, die ebendies bestritten hatte. Der Beschluss (Advisory Opinion) des IGH zur israelischen Besetzung der Westbank, Ostjerusalems und des Gazastreifens vom 19. Juli habe dagegen unwiderruflich bestätigt, dass die Besatzung durch die Osloer Verträge nicht aufgehoben wurde. Vor allem habe er klar artikuliert, dass »die fortgesetzte Präsenz Israels im besetzten palästinensischen Territorium illegal ist«. Die Besetzung müsse schnellstmöglich beendet werden. Al-Haq nimmt die Beschlüsse des IGH zur Grundlage ihrer beiden zentralen Forderungen: einer Beendigung des Genozides in Gaza sowie eines Stopps der Gewalt und der »ethnischen Säuberungen« in Ostjerusalem und in der Westbank.
Dschabarin kann sich das Lachen nicht verkneifen, als ich ihn auf Israels Vorwurf des Terrorismus vom Oktober 2021 anspreche. Für ihn ist klar, dass damit die Arbeit von Organisationen wie Al-Haq unterbunden werden soll. Die Organisation genießt weltweit einen ausgezeichneten Ruf. Ihre Berichte werden geschätzt als verlässliche Informationen über Menschenrechtsverletzungen durch Israel in den besetzten Gebieten. Dschabarin trifft immer wieder hochrangige Politiker und Staatschefs, um ihnen die Argumente von Al-Haq vorzutragen. UN-Menschenrechtsexperten in Genf haben daher am 25. April 2022 Staaten und internationale Organisationen aufgefordert, die finanzielle Unterstützung für Al-Haq und fünf weitere Organisationen wiederaufzunehmen, denen Israel Terrorismusunterstützung vorwirft, da es dafür keinerlei stichhaltige Beweise vorgelegt habe. Deutschland ist diesem Ruf nicht gefolgt.
Al-Haq wurde 1979 von den palästinensischen Rechtsanwälten Raja Shehadeh, Jonathan Kuttab und Charlie Schammas gegründet, zehn Jahre vor B’Tselem. Das letzte Buch von Shehadeh wurde gerade ins Deutsche übersetzt: »Was befürchtet Israel von Palästina?« Den englischen Originaltitel veränderte der deutsche Verlag, indem er hinzufügte: »Von der Hoffnung auf einen gerechten Frieden.« Viel Hoffnung hat Shehadeh, genau wie Schawan Dschabarin, nicht, angesichts des Völkermordes in Gaza und der Gewalt in der Westbank.
Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Birzeit im Westjordanland. Dies ist ihr neunter »Brief aus Jerusalem«. Teil acht über die Organisation B’Tselem erschien in der Ausgabe vom 24./25. August.
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