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Aus: Ausgabe vom 02.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kulturgeschichte

Immer eine Reise wert

Ein Oldenburger schreibt über Bitterfeld: Stefan Thobens Dokumentarband »Ein Kessel B. – Ein Sommer auf Bitterfelder Wegen«
Von Thomas Behlert
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Ein Bitterfelder Weg im Jahre 1990

Seit der »Wende« hat sich unsere Familie Bitterfeld als das Zen­trum Ostdeutschlands auserkoren, denn es liegt ungefähr in der Mitte aller Familienwohnorte und ist außerdem in sachen Kultur und Natur gewachsen.

Bis heute gucken Freunde skeptisch, wenn wir von unserem Pfingsttreffen erzählen. Sie wundern sich und fragen noch einmal nach, ob wir wirklich Bitterfeld meinen. Noch weniger über das ehemalige Kohleabbaugebiet wissen wohl viele Westdeutsche. Als ich neulich bei Freunden in Bayern rumhing, kam bei den abendlichen Zusammenkünften das Gespräch auf Bitterfeld. Ich musste dann alles erzählen: über den heutigen Zustand der Gegend um Bitterfeld-Wolfen, um das jetzige (Geld-)Geschiebe wegen der Grundstücke am Großen Goitzschesee. Und ich musste viele Fragen zur Vergangenheit beantworten.

Mir kam es vor, als ob die »Wessis« in sachen DDR so etwas nie in der Schule hatten. Es ging da nur immer um Diktatur, Staatssicherheit und Mangelwirtschaft. Berichten konnte ich, denn in den 80er Jahren studierte ich in Halle (Saale) Agrochemie und Pflanzenschutz, und mich luden Bekannte oft zu Feten nach Bitterfeld oder in den Nachbarort Wolfen ein. Auf dem Weg dorthin roch es nach faulen Eiern, Ammoniak oder Salpetersäure, der Himmel war verhangen, und Kohlestaub rieselte fein und sachte auf die Erde. Der Spruch, den man mir entgegenrief, stimmte leider: »Bitterfeld, Bitterfeld, wo der Dreck vom Himmel fällt«.

Bei einem unserer letzten Treffen schlendere ich mal wieder durch den kleinen Ort Bitterfeld mit seiner alternden, nie erneuerten Bausubstanz, der aber mit einer intakten Innenstadt und einer rekonstruierten Kirche punktet und gut ausgebaute Radwege vorweisen kann.

Die verrußte Gegend veränderte sich nach der »Wende« völlig. 200 Jahre Bergbau und Industrie waren plötzlich am Ende. Die Natur kam zurück, neuer Wald entstand. Die völlig überalterte Filmfabrik in Wolfen gestaltete man zum Museum um, die riesigen Kohleabbaumaschinen können in Gräfenhainichen bestaunt werden, und der Muldestausee ist wieder Lebensraum für Biber, Greifvögel und jede Menge anderer Tiere, die die Kinder des Bitterfelder Sozialismus nur aus Schulbüchern kannten. Friedersdorf nannte sich nun Buchdorf, denn in verschiedenen Gebäuden, wie Schule, Schmiede und Konsum zogen Buchantiquare ein, die mittlerweile wieder schließen mussten.

Weil Bitterfeld-Wolfen bekanntlich immer eine Reise wert ist, musste das endlich einmal dokumentiert werden, was der Oldenburger Stefan Thoben dann auch tat. Er bereiste zunächst das Ruhrgebiet, nachzulesen und nachzuschauen (Fotos sind von Stefan Thoben) in »Ein Traum in bunt. Entdeckung Ruhrgebiet«, um sich dann auf einen kleinen Teil Sachsen-Anhalts zu stürzen. Thoben fährt Rad und besucht u. a. Bitterfeld-Wolfen, Jeßnitz, den Muldestausee, Pouch, den Großen Goitzschesee, den Seelhausener See und Sausedlitz. Finden wollte der Autor an der Mulde entlang Menschen, die 1992 als Kinder an die Nordsee zur Kur konnten, nach einem Spendenaufruf im Westen. Gegen Ende des Berichts »Ein Kessel B.«, der fast den Namen einer DDR-Samstagabendshow trägt, wurde Stefan Thoben im Lokalarchiv der Mitteldeutschen Zeitung fündig. Er entdeckte einige Artikel: »Noch ein letztes Winken, dann ab an die Nordsee! 49 Kinder begaben sich gestern zur Heilkur nach Schillig.« Doch bevor er wirklich noch mit damaligen Mitreisenden sprechen konnte, lernte er auf der Tour viele interessante, redselige und liebenswerte »Ureinwohner« und auch Neubürger kennen.

So wurde mit Gartenbesitzern Kaffee getrunken, es wurden Museen und der Kulturpalast Bitterfeld besucht. Schließlich geht der Autor mit Einheimischen baden, schläft in neueröffneten Gaststätten, deren Besitzer auf viele Touristen hoffen, und lässt sich von ehemaligen Kumpels des Bergbaus in ihre Welt einführen, die nur noch in Ausstellungen existiert. Natürlich fährt Thoben durch die neue Industrielandschaft, die jetzt ganz ohne orangen Rauch aus den Schloten auskommt und u. a. aus der Kunstseidenstraße (Chemie) und der Sonnenallee (Solarindustrie) besteht. Zu den wundervollen Geschichten gesellen sich Fotos, die das Kleine im Großen widerspiegeln, an das DDR-Bitterfeld erinnern und dem Leser Menschen näherbringen, deren Heimat, verdammt noch mal, Bitterfeld-Wolfen ist. Zitate von Monika Maron, Karl-Heinz Jakobs, Thomas Brasch und Lukas Rietzschel runden diesen 240 Seiten dicken Bericht ab.

Stefan Thoben: Ein Kessel B. – Ein Sommer auf Bitterfelder Wegen, Verlag Andreas Reiffer, Meine 2023, 240 Seiten, 28 Euro

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